"Rollenbilder in der Fotografie
– auf der Spur nach dem, was Lehrmaterialien nebenbei vermitteln", Christin Müller 2022
“Der Platz als Bühne”, Britt Schlehan, 2021
Interview with Dana Lorenz & Sophia Kesting on “Trakt IV”, 2019
“WHITE CITY — BLACK CITY”, Stefanie Milling, 2019
“Wachstum ohne Ausdehnung – KORRELAT”, Maren Lübbke-Tidow, 2018
Rollenbilder in der Fotografie
– auf der Spur nach dem, was Lehrmaterialien nebenbei vermitteln
Christin Müller, 2022
Bei ihrer Recherche in dem FOTOHOF archiv stieß Sophia Kesting auf eine Diasammlung, die schon länger niemand mehr für beachtenswert gehalten hatte. Die Künstlerin war eingeladen, sich mit dem Archiv zu beschäftigen und in Reaktion auf dieses eine neue Arbeit zu entwickeln. Bei einem Rundgang mit Kurt Kaindl, der Gründungsmitglied und bis heute Teil des Teams ist, durch die Räume des FOTOHOF fielen ihr zahlreiche Diakästen auf. Auf Nachfrage berichtete ihr Kurt Kaindl von der Nutzung der Dias für seinen Unterricht und öffnete Sophia Kesting so einen Blick in die Randgebiete des FOTOHOF archiv. Die Beschäftigung mit diesen mehr oder weniger vergessenen Dias löste bei Sophia Kesting ein grundlegendes und medienreflexives Nachdenken über Fotografie aus.
Seit der Gründung des FOTOHOF 1981 bietet das Team Kurse über das Medium Fotografie an. In seinen Fotokursen nutzte Kurt Kaindl in den 1980er und 1990er Jahren eine Diasammlung mit rund 5000 Dias und mehrere Ringordnern, auf die Sophia Kesting nun zugreift. Dieses Lehrmaterial zur Erläuterung der technischen und gestalterischen Funktionsweisen des Mediums stammt aus verschiedenen Quellen: Ein Teil kam von Fotofirmen, wie den von Kodak in den 1980ern auf Bestellung versandten Lehrbehelf für Fotografie mit Dias und Erklärungen sowie die Nikon Fotoschule von 1981. Viele weitere Bilder hatte er aus Magazinen, Zeitungen und Künstler*innenbüchern reproduziert und Fotografien aus seinem eigenen Werk hinzugefügt.
Im Gegensatz zu Fotografien, die als Kunstwerke eingestuft werden oder die dokumentarischen Charakter haben, erfolgt bei solchen Lehrbildern eine besondere Form der Alterung. Sie gelangen in der Regel gar nicht oder nicht gleichwertig in Sammlungskataloge. Irgendwann werden sie obsolet, weil die verwendeten Kameras längst überholt sind, weil die Aufnahme motivisch oder das Vermittlungsmedium technisch veraltet ist. Ähnlich wie bei Bildern aus der Wissenschaft führt die Einstufung als unzeitgemäß meist dazu, dass die Lehrbilder entsorgt werden oder in hintere Ecken von Archiven gelangen und dort in Vergessenheit geraten. Ab diesem Moment ist der ursprünglich angedachte Erkenntnisgewinn der fotografischen Bilder verschwunden. Sie erzählen dennoch einiges über die Bedingungen ihrer Herstellung und den damit verbundenen normativen Vorstellungen, die nebenbei in die Lehrveranstaltungen Eingang finden. Genau an dieser Stelle setzt Sophia Kestings Projekt Rewriting the Photographic Image an.
An dem Lehrmaterial Kurt Kaindls interessieren Sophia Kesting weniger die technischen Informationen. Sie richtet stattdessen ihren Blick darauf, wie das fotografische Wissen vermittelt wird. Dabei machte sie eine Beobachtung, die ihr in ihrer Arbeit mit dem Medium regelmäßig begegnet ist: In Kurt Kaindls Bildauswahl ebenso wie in anderen Lehrbüchern prägen bis in die 2000er Jahre Männer aktiv die Abbildungen zur Bildgestaltung und -herstellung, Frauen sind hingegen häufig passiv. Inzwischen hat sich diese Geschlechteraufteilung zwar verschoben, die fotografierten und fotografierenden Personen sind jedoch weiterhin in der Regel weiß, binär, jung und gutaussehend. In den gefundenen Lehrdias von Kurt Kaindl erfolgt die geschlechtsspezifische Aufteilung themenbezogen. In den Kapiteln zum Porträt werden Gesichter von Frauen oder nackte Frauenkörper ausgeleuchtet und mit Aufhellern moduliert. Bei der Erläuterung des fotografischen Akts und der Entwicklung von Fotografien sind Männer die bestimmenden Protagonisten hinter der Kamera, im Fotostudio oder in der Dunkelkammer. Wie kann man mit so einem fotografischen Material künstlerisch umgehen, ohne polemisch zu werden? In welcher Form ist eine kritische und zugleich produktive Medienreflexion möglich?
Für Rewriting the Photographic Image entscheidet sich Sophia Kesting zunächst für Ausbreiten und Hantieren mit dem gefundenen Material. Sie befreit die Frauengesichter von den ausführlichen technischen Beschreibungen und belässt lediglich knappe Hinweise zur Ausleuchtung als Bildunterschriften. Nicht mehr eingezwängt in ein dichtes Textgerüst wirken die Gesichter weniger wie reine Oberflächen. Mit der Zugabe von Weißraum treten vielmehr die subjektiven Züge der Frauen hervor. [S. 13,19] In einer anderen Bildgruppe hantiert Sophia Kesting wortwörtlich mit den verschiedenen Aufnahmen eines Frauengesichts aus der Nikon Fotoschule. Diese Geste verschiebt unsere Wahrnehmung wirkungsvoll: Nicht die fotografierte Frau erscheint als Objekt im Bild, sondern das Bild selbst, das hier als Abzug in materieller Form sichtbar ist. Sophia Kesting betont zudem den Akt des Betrachtens, indem sie die Porträtaufnahmen so vor ihre Kamera hält, dass wir sie gut anschauen können. Und sie ist es selbst, die die Bilder in der Hand hält – als Künstlerin, Fotografin, Betrachterin und vermutlich ähnlich alte Frau wie die, die hier ausgeleuchtet wurde. [S. 37–44]
Wie in vielen Lehrbüchern ist der Blick hinter die Kulissen auch ein wichtiger Bestandteil von Kurt Kaindls Unterrichtsmaterial, um den Ablauf der Bildproduktion zu erläutern. Die notwendigen technischen Prozesse werden dazu in Einzelbilder zerlegt. Diese visuellen Erläuterungen greift Sophia Kesting mit Reenactments auf und ersetzt die Männer hinter der Kamera, in der Dunkelkammer, im Fotostudio und im Atelier durch sich selbst. Sie übernimmt als Frau nicht einfach den Platz der Männer, sie befragt darüber hinaus die gängigen Repräsentationen der fotografischen Tätigkeit in den vorgefundenen Bildern. Dazu eignet sich Sophia Kesting zunächst mit eigenen Posen die visuelle Darstellung der Entwicklung der künstlerischen Produktion aus dem Lehrbehelf für Fotografie von Kodak an. [S. 53–57] Die Originalbilder verkürzen die Entwicklung in gezeichneten Illustrationen auf einen Höhlenmaler, einen Bildhauer, einen Maler und einen Fotograf. Für ihre Reenactments tritt Sophia Kesting in einen Austausch mit anderen Künstler*innen, positioniert sich vor deren Werken oder nutzt deren Arbeitsmittel für ihre Darstellung der verschiedenen Künste. Dabei ist sie jeweils in einer Rückenansicht zu sehen und steht so stellvertretend für viele Frauen, die einer künstlerischen Tätigkeit nachgehen. Eine Ausnahme und gleichzeitig den Schlusspunkt der Reihe zur Entwicklung der künstlerischen Produktion bildet eine Aufnahme mit einem Fotoapparat. Hier ist Sophia Kesting von vorn und ohne künstlerisches Erzeugnis, aber mit einer vor das Gesicht gehaltenen Kamera zu sehen. Nebenbei erfahren wir auf diese Weise, in welchem Format und wie die Künstlerin ihre Bilder aufnimmt. Die von ihr genutzte Kleinbild-Spiegelreflexkamera Nikon F90X, eine sogenannte handheld camera, erlaubt ein freies, nicht zwingend statisches Fotografieren. Die Kamera ist analog und spricht im Gegensatz zur digitalen Fotografie für ein Interesse an weniger und dafür konzentrierteren Aufnahmen, für die Vorliebe der analogen Bildcharakteristik und häufig für die Arbeit mit den eigenen Fotografien in der Dunkelkammer.
Mit weiteren Bildern buchstabiert Sophia Kesting die Repräsentation der Fotografie weiter aus: Ein Bildpaar macht das Fotografieren als Tätigkeit und das dazugehörige, fertige Motiv sichtbar und lädt dazu ein, wie bei einem Rätselbild Vergleiche zwischen beiden zu ziehen. [S. 58-59] Eine dreiteilige Bildgruppe steht für einen wichtigen Aspekt des Aufnahmeprozesses: die Messung des vorhandenen Lichts mit einem Belichtungsmesser. Mit der Lichtmessung fällt die Entscheidung, welche Stellen im Bild hell und welche dunkel erscheinen und damit auch welche Bildelemente hervorgehoben werden und welche zurücktreten. Den eigentlichen Zweck solcher Bilder – zu erläutern, wie man das Messgerät richtig hält und was darauf abzulesen ist – erweitert Sophia Kesting eindrücklich. Den Belichtungsmesser hält eine Kinderhand, eine Erwachsenenhand und eine ältere Hand. Genau genommen sind das ihre Tochter, ihre Mutter und Sophia Kesting selbst. Die drei haben ganz sicher unterschiedliche Vorstellungen in Hinblick auf die Bildgestaltung mit Licht, schon allein aufgrund ihrer Sehgewohnheiten und Körpergröße. [S. 63–65]
Weitere Fotografien des Projekts führen uns in fotografische Arbeitsräume. [S. 67, 69] In einem Fotostudio positioniert sich Kesting vor einer Camera Obscura und in der Dunkelkammer hantiert sie im Laborkittel mit Fotochemie. Die Künstlerin bedient damit das Genre des Berufsporträts, bei dem in vielen Berufsgruppen meist männliche Protagonisten im Mittelpunkt stehen, nicht nur in der Fotografie. Solche Aufnahmen von Personen bei einem eigentlich unsichtbaren Teil ihrer Arbeit sehen meist seltsam künstlich aus. Die arbeitende Person friert für den Moment des Fotografierens in einer Bewegung ein und doch transportiert sich in dieser Art von Bildern etwas ganz entscheidendes: Wer bestimmt den Arbeitsprozess und wie ist das Verhältnis zur Arbeitsumgebung. Sophias Kestings Reenactments verdeutlichen, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob Frauen oder Männer im Labor arbeiten, oder anders formuliert, Frauen können und sollten die Bild-Entstehungsprozesse genauso steuern und repräsentieren.
Tritt man bei der Betrachtung von Rewriting the Photographic Image einen Schritt zurück und richtet die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Tatsache, dass sich hier eine Frau den fotografischen Prozess aneignet, zeigen sich weitere Aspekte, die diese Arbeit in ihrer Medienreflexivität auszeichnen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Lehrarchiv hat Sophia Kesting die Frage der Autor*innenschaft beschäftigt, denn der Begriff ist in ihrem Projekt komplex. Einerseits, da es sich um eine Arbeit mit gefundenen Fotografien handelt, die jemand als Lehrmaterialien erstellt und die Kurt Kaindl für seinen Unterricht ausgewählt hat. In diesem befindet sich eine bunte Mischung an nicht benannten Bildautor*innen, die Kurt Kaindl für seinen Unterricht ohne Beachtung des ursprünglichen Kontexts sorglos ausgewählt und reproduziert hatte. Andererseits benötigt die Künstlerin bei den Motiven, wo sie selbst als Person im Bild auftritt, eine weitere Person, die fotografiert. In Anlehnung an die gefundenen Fotografien aus dem Lehrarchiv bestimmt Kesting zwar den Bildaufbau maßgeblich, die zusätzlichen Bildautor*innen bringen sich dennoch subtil mit eigenen Ideen in das geplante Setting ein. Und nicht zuletzt verdeutlichen die drei Personen mit dem Belichtungsmesser, dass die Bildautor*innen Menschen mit ganz unterschiedliche Ideen sein können.
Neben dem Verständnis von Autor*innenschaft ist mit Sophia Kestings Projekt die Frage nach der öffentlichen Sichtbarkeit von Archivmaterial verbunden, das nicht in die Kategorie Kunstwerk passt. Im Bestand des FOTOHOF archiv, der in großen Teilen online einsehbar ist, befindet sich mit der Werkgruppe der Musterbilder von Hans Rustler bisher ein Konvolut das als Lehrmaterial verstanden werden kann. Es handelt sich um Testbilder, die im Rahmen einer Abschlussarbeit an der Agfa Photoschule Berlin entstanden sind. Die Bilder deklinieren die technischen Möglichkeiten beim Herstellen von Fotoabzügen durch und wurden 1931 in der Mustermappe aus der Agfa Photoschule veröffentlicht. Im Zuge der Ausstellung und Publikation von Sophia Kesting wird nun erstmals ein Teil der Bilder aus Kurt Kaindls Diasammlung öffentlich zu sehen sein. Die Künstlerin antwortet so auf die Einladung des FOTOHOF – die Sammlung zu befragen und in Bewegung zu versetzen, mit der Aufforderung, den Blick auf das Archiv zu erweitern und zu überdenken, welche Bildtypen und Bildautor*innen unseren Blick auf die Fotografie prägen.
Der Text von Christin Müller erscheint im Künstlerinnenbuch "Rewriting the Photographic Image", Sophia Kesting, 2022, FOTOHOF edition: Band 348, ISBN 978-3-903334-48-9
English version
Role Models in Photography
- On the Trail of What Teaching Materials Convey in Passing
During her research in the archive of the FOTOHOF, Sophia Kesting came across a slide collection that no one had considered worthy of attention for quite some time. The artist was invited to study the archive and to develop a new work in response to it. During a tour of the FOTOHOF with Kurt Kaindl - who is a founding member and still part of the team - she noticed numerous slide boxes. When asked, Kurt Kaindl told her about the use of the slides for his teaching, and thus opened up a view into the peripheral areas of the FOTOHOF archiv to Sophia Kesting. A closer look at these more or less forgotten slides led Sophia Kesting to initiate a fundamental and media-reflexive reflection on photography.
Since FOTOHOF was established in 1981, the team has offered courses on the medium of photography. The slide collection was used in Kurt Kaindl's photography courses in the 1980s and 1990s as illustrative material to explain technical and artistic functions of the medium. This collection includes about 5000 slides and several ring binders and came from various sources. Some came from photography companies, such as Lehrbehelf für Fotografie (Teaching Aids for Photography) which slides and explanations that could be ordered from Kodak in the 1980s as well as Nikon Fotoschule dated 1981. Kurt Kaindl had also reproduced many other images from magazines, newspapers and artist*s books, and added photographs from his own work.
Unlike photographs which are classified as works of art or that have a documentary character, such educational images undergo a special form of aging. As a result, they are usually not included in collection catalogs at all, or at least not at an equivalent level. At some point, they become obsolete because the cameras used have long since become outdated, or because the motif of the photograph or the medium of communication have become technically antiquated. As in the case of scientific images, the classification of being outdated usually leads to the educational images being disposed of or ending up in the far corners of archives, only to be forgotten. From this moment on, the originally intended gain in knowledge from the photographic images has disappeared. Nevertheless, they tell us something about the conditions of their production and the normative ideas associated with them, which incidentally find their way into the courses. This is precisely where Sophia Kesting's project Rewriting the Photographic Image comes in.
In Kurt Kaindl's teaching materials, Sophia Kesting was less interested in the technical information they provided. Instead, she focused her attention on how photographic knowledge is conveyed. In doing so, she made an observation that she encountered regularly in her work with the medium: in Kurt Kaindl's selection of images, as in other educational books until the 2000s, men actively shape the illustrations of image design and production, while women, by contrast, are often passive. In the meantime, this gender split has shifted, but the people being photographed and photographing are still generally white, binary, young, and good-looking.
In these found educational slides of the FOTOHOF, the gender-specific distribution is subject-related. In the chapters on portraiture, women's faces or naked female bodies are illuminated and modulated with brighteners. In the explanations of the photographic act and the development of photographs, men are the determining protagonists behind the camera, in the photo studio or in the darkroom. How can one deal artistically with such photographic material without becoming polemical? In what form is a media reflection possible that is critical and productive at the same time?
For Rewriting the Photographic Image, Sophia Kesting initially decides to unfold and handle the found material. She liberates the women's faces from the detailed technical descriptions and leaves only brief notes on the lighting as captions. No longer constrained within a dense textual framework, the faces seem less like pure surfaces. Instead, with the addition of white space, the subjective features of the women emerge. [pp. 13, 19] In another group of images, Sophia Kesting literally holds in her own hands the various shots of a woman's face from the Nikon photo school. This gesture effectively shifts our perception: it is not the photographed woman who appears as the object in the image, but the image itself, visible here as a print in material form. Sophia Kesting also emphasizes the act of viewing by holding the portraits in front of her camera in such a way that we can get a good look at them. And it is she herself who holds the images in her hand - as artist, photographer, viewer, and a presumably similarly-aged woman to the one illuminated here. [pp. 37–44]
As in many textbooks, the look behind the scenes is also an important part of Kurt Kaindl's teaching material in order to explain the process of image production. The necessary technical processes are divided into individual images for this purpose. Sophia Kesting takes up these visual explications with reenactments, replacing the men behind the camera, in the darkroom, in the photo studio, and in the studio with herself. As a female, she does not simply take the place of the men, she furthermore questions the common representations of photographic activity within the found material. To do so, Sophia Kesting first reenacts, with her own poses, the visual representation of the development of artistic production from Kodak's Lehrbehelf für Fotografie. [pp. 53–57] The original images reduce this development in drawn illustrations to a cave painter, a sculptor, a painter, and a photographer. For her reenactments, Sophia Kesting enters into an exchange with other artists*, positioning herself in front of their works or using their working tools for her representation of the various arts. In each case, she is seen in a rear view, thus also representative of many women who pursue an artistic activity. An exception and at the same time the final point of the series on the development of artistic production is a photograph taken with a camera. Here Sophia Kesting can be seen from the front and without an artistic product, but with a camera held in front of her face. In this way, we learn in passing with which format and how the artist takes her pictures. The Nikon F90X 35mm SLR camera she uses, a so-called handheld camera, allows for free, not necessarily static photography. The camera is analog and, in contrast to digital photography, speaks for an interest in fewer and therefore more concentrated shots, for a preference of analog image characteristics, and often for working with her own photographs in the darkroom.
With further images, Sophia Kesting further spells out the representation of photography. a pair of images depict both the actual act of taking pictures and the corresponding, completed motif, inviting us to draw comparisons between the two, as in a riddle picture. [pp. 58–59] A three-part group of images represents an important aspect of the shooting process: measuring the available light with an exposure meter. The light measurement is used to decide which parts of the image are to appear light and which dark, and thus which elements of the image are to be emphasized and which are recessed. The actual aim of such pictures - to explain how to hold the exposure meter correctly and what can be read from it - is impressively extended by Sophia Kesting. The exposure meter is held by a child's hand, an adult's hand, and an older hand. To be precise, these are her daughter, her mother and Sophia Kesting herself. The three of them certainly have different ideas with regard to creating images with light, already on the basis of their visual habits and body size alone. [pp. 63–65]
Other photographs of the project bring us into photographic workspaces. [pp. 67, 69] In a photo studio, Sophia Kesting positions herself in front of a camera obscura, and in the darkroom she handles photochemistry in a lab coat. The artist thus serves the genre of the professional portrait, in which mostly male protagonists take center stage in many professions, not only in photography. Such shots of people doing what is actually an invisible part of their work usually looks strangely artificial. The working person freezes for the moment of the picture, and yet something quite decisive is transported in these kinds of pictures: who determines the working process and what is the relationship to the working environment? Sophia Kesting's reenactments point out that it basically makes no difference whether women or men work in the laboratory, or to put it another way, women can and should control and represent the processes of image creation in the same way.
If one takes a step back when looking at Rewriting the Photographic Image and focuses attention not only on the fact that a woman is appropriating the photographic process here, other aspects that distinguish this work in its media reflexivity become evident. In dealing with the teaching archive, Sophia Kesting was preoccupied with the question of authorship, because the concept is complex in her project. On the one hand, because it is a work with found photographs that someone used to create teaching materials and that Kurt Kaindl selected for a class. Here we find a colorful mixture of unnamed image authors*, whom Kurt Kaindl had selected rather carelessly and reproduced for his lessons without particular regard to the original context. On the other hand, in the motifs where she herself appears as a person in the picture, the artist needs another person to take the photograph. Following the photographs found in the teaching archive, Sophia Kesting decisively determines the composition of the picture, but the additional authors* of the picture subtly introduce their own ideas into the planned setting. And last but not least, the three people with the exposure meter make it clear that the image authors* can be people with very different ideas.
In addition to the understanding of authorship, Sophia Kesting's project raises the question of the public visibility of archive material that does not fit into the category of artwork. In the holdings of the FOTOHOF archiv, there is one group of works so far – Musterbilder (sample pictures) by Hans Rustler – which can be understood as teaching material. These are test images that were created as part of a final project at the Agfa Photoschule Berlin. The pictures demonstrate the technical possibilities of making photographic prints and were published in 1931 in the sample folder of the Agfa Photoschule. In the context of Sophia Kesting's exhibition and publication, some of the images from Kurt Kaindl's slide collection will now be on public view for the first time. Sophia Kesting thus responds to the FOTOHOF's invitation – to question the collection with an artistic work and to set it in motion, – with an invitation to expand our view of the archive and to reconsider which image types and image authors* shape our view of photography.
Christin Müller's text appears in the artist's book "Rewriting the Photographic Image," Sophia Kesting, 2022, FOTOHOF edition: volume 348, ISBN 978-3-903334-48-9.
"Der Platz als Bühne
Eine künstlerische Dokumentation des Wilhelm-Leuschner-Platzes"
Britt Schlehan, Kreuzer, Juli 2021
Der Wilhelm-Leuschner-Platz, ungefähr sechs Hektar groß, ist seit Jahrzehnten die größte innerstädtische Brache. Als Sophia Kesting und Dana Lorenz 2012 mit ihrer gemeinsamen künstlerischen Dokumentation des Platzes begannen, studierten sie Fotografie bei Joachim Brohm an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Längst schlossen sie Studium ab und jede widmet sich eigenen Projekten. Der Wilhelm-Leuschner-Platz als gemeinsames Beobachtungsfeld ist allerdings geblieben. Ursprünglich wollten Kesting und Lorenz die Umgestaltung zum Platz der Friedlichen Revolution samt Freiheits- und Einheitsdenkmal begleiten. Passiert ist seit dem einiges. Der Citytunnel wurde gebaut, die Pläne für das Einheitsdenkmal begraben, Bebauungen skizziert und diskutiert, noch aber liegt der Platz so da wie vor Jahrzehnten auch. Von temporären Nutzungen abgesehen, eroberte die Natur den asphaltierten Ort. Der 1997 geschlossene Bowlingtreff harrt tapfer aus und wartet nun auf sein neues Leben als Naturkundemuseum.
Der Platz stellt eine Bühne für unterschiedliche Interessen und Nutzungsoptionen dar. Die Fotografinnen begleiten diesen undefinierten Ort nun seit fast einem Jahrzehnt mit analoger Aufnahmetechnik per Mittelformatkameras. Dabei geht es nicht um eine mikroskopische Wiedergabe des Platzes, sondern der Platz ist auch für sie ein künstlerisches Experimentierfeld zwischen Gestern, Heute und Morgen. In ihren Inszenierungen bezogen sie sich beispielsweise auf Leipziger Fotografen wie Erasmus Schröter und verwendeten ebenso starke Blitze bei der Aufnahme. Sehr kontrastreiche Aufnahmen zeigen temporäre Eroberungen wie auch inszenierte Anordnungen von Menschen oder aktuelles Demonstrationsgeschehen auf dem Platz.
Anlässlich des 9. F/Stop-Festivals bildet die Ausstellung »Asphalt, Steine, Scherben« in der ODP Galerie einen Satelliten. Hier ist eine Zweikanalprojektion an gegenüberliegenden Wänden zu sehen, die Aufnahmen des Wilhelm-Leuschner-Platzes von 2012 bis 2021 kombiniert. Die Aufnahmen erzählen von Gesellschaft und Geschichte und führen durch die Choreographie zu einer neuen Korrespondenz der Bilder.
Ein Ende der Dokumentation ist derzeit noch nicht in Sicht. Erst wenn wirklich Baugruben ausgehoben werden und die Brache verschwindet, endet ihre Dokumentation. Das kann noch einige Zeit dauern. BRITT SCHLEHAHN
»Asphalt, Steine, Scherben«, bis 18.7., ODP Galerie
English version
“The square as a stage
An artistic documentation of Wilhelm-Leuschner-Platz”
Britt Schlehan, Kreuzer, July 2021
Wilhelm-Leuschner-Platz, about six hectares in size, has been the largest inner-city wasteland for decades. When Sophia Kesting and Dana Lorenz began their joint artistic documentation of the square in 2012, they were studying photography with Joachim Brohm at the Academy of Visual Arts. They have long since graduated and each devotes herself to her own projects. Wilhelm-Leuschner-Platz, however, has remained as a common field of observation. Originally, Kesting and Lorenz wanted to accompany the redesign of the Peaceful Revolution Square, including the Freedom and Unity Monument. A lot has happened since then. The Citytunnel has been built, the plans for the Unity Monument buried, buildings sketched and discussed, but the square is still there as it was decades ago. Apart from temporary uses, nature has conquered the asphalted site. The bowling alley, which closed in 1997, is holding out bravely and now awaits its new life as a natural history museum.
The square is a stage for different interests and options for use. The photographers have been accompanying this undefined place for almost a decade now with analogue recording technology using medium format cameras. They are not interested in a microscopic reproduction of the square; for them, the square is also an artistic field of experimentation between yesterday, today and tomorrow. In their stagings, for example, they referred to Leipzig photographers such as Erasmus Schröter and used equally powerful flashes when taking pictures. Very high-contrast photographs show temporary conquests as well as staged arrangements of people or current demonstrations on the square.
On the occasion of the 9th F/Stop Festival, the exhibition "Asphalt, Stones, Shards" in the ODP Gallery forms a satellite. Here, a two-channel projection can be seen on opposite walls, combining shots of Wilhelm-Leuschner-Platz from 2012 to 2021. The shots tell of society and history and, through the choreography, lead to a new correspondence of images.
There is currently no end in sight for the documentation. Only when construction pits are actually dug and the wasteland disappears will its documentation end. That may still take some time.
“Asphalt, Stones, Shards”, until 18 July, ODP Gallery
Hi Dana, Hi Sophia, you are not IfZ residents, but artists and you are currently preparing the exhibition “Trakt IV” at the GfZK. What is the idea behind it and what does it have to do with the IfZ?
Dana & Sophia: Hello IfZ. Thank you for asking. We’ll try to keep it short.
Realizing a photographic project at the IfZ was quite a contradiction at first, but also a great challenge for us. Trakt I–III exist in the IfZ, so it was logical for us to call the exhibition in the Gallery of Contemporary Art “Trakt IV”. For us, the title symbolizes a new, artistic space and an imaginary extension of the rooms of the IfZ.
Adrian Dorschner, who planned and accompanied the renovation works at the IFZ more than 5 years ago in collaboration as an architect, asked us in spring 2017 if we could imagine realizing an artistic work at the IfZ, since the complexity of the place was difficult to depict in the form of conventional architectural photographs. We both appreciate the IfZ as a social space, feel at home musically and in the different communities that exist there, plus we can identify pretty well with the political positioning. But we were never part of the crew or anything.
We found it totally exciting that a historical place like the Kohlrabizirkus meets club culture. Unfortunately, in a city like Leipzig, which is currently changing so quickly, you can’t know how long socio-cultural spaces will last. Against this background, we found it all the more important to develop a photographic document of time, i.e. an archive over a longer period of time.
Since 2012, we have been working together on the long-term photographic project “Asphalt, Steine, Scherben” (Asphalt, Stones, Shards), with whose visual language we were able to partially sensitize the crew for a new, photographic project. Then it was still a long way for us through plenums, delis and individual conversations to the first picture. With each photo session, we all became more familiar and grew with the project, but were also challenged hard again and again.
“No-Photo Policy” and photo project, how does that fit together?
Dana & Sophia: First of all, not at all.
Nowadays, photos are generally treated far too lapidary, especially on the Internet. Photography can also have a strange form of power that can be very unpleasant. Taking photos in a protected space like the IfZ, despite a “no-photo policy”, is of course not something that can be done lightly and requires a particularly sensitive approach to each other. From the beginning, we could only imagine taking photographs in analog, on negative. In artistic photography, working in analog is indeed still and often again a legitimate choice. Shooting on film ensured that the photos could not be released uncontrolled onto the Internet for the time being. In addition to film development, we made contact prints (1:1 reproduction as positive) and deposited them in the office, so there was total transparency on our part about what we photographed and how. This was not always easy for us, since not every picture is at the same time a relevant and selected motif.
... and somehow we seem to have managed to reach a majority consensus, i.e. pro-photoproject within the crew...
What were the challenges, apart from the no photography rule, about photographing in the club?
Dana & Sophia: Definitely taking photos during the events. We don’t have that typical habitus that you might think of with party or fashion photographers. We rarely give people instructions and don’t like to shoot them with our power flash. We are simply there, invisible, and observe, i.e. document, what is happening. Therefore, despite our technical routine with the analog camera, the darkness in combination with the fast movements was a real challenge. Often we could not do without the flash, but then not to disturb in the club, but still to capture an authentic moment ...
Apart from that, working with so many different people, this big crew, the IfZ community in all its different facets was really impressive and honestly sometimes quite exhausting.
We dealt very closely with the right to the image of the individual and tried to protect it as much as possible. In addition, we obtained the signature for the publication of the images via a model release contract, or the possibility of censorship of the own image.
At this point we would like to get rid of something: We are totally excited about the exhibition and the response from the different sides. We would like to take this opportunity to thank everyone who supported us, trusted us, worked with us, had their picture taken, or simply supported us without wanting to be photographed. This was a project where we saw, learned and experienced a lot. Many thanks from us for that!
Thank you Dana, thank you Sophia for the interview and especially for your work on Trakt IV!
The exhibition “Trakt IV” will be on display at GfZK Leipzig from 04-19-2019 to 04-27-2019. The opening is on 04-18-2019 at 6 pm.
"WHITE CITY — BLACK CITY", Stephanie Milling, 2019
Zwischen etwa 1930 und 1950 entstanden im noch jungen Tel Aviv rund 4000 Bauten im Bauhaus- und Internationalen Stil. Einwanderer aus Europa, vor allem aus Nazi-Deutschland geflüchtete Juden, brachten die Bauweise mit. Die Stadtplanung des Schotten Patrick Geddes ließ Platz für ihre Umsetzung, so dass Tel Aviv bis heute weltweit die meisten Bauwerke in diesem Stil versammelt. Etwa 1000 Gebäude der sogenannten Weißen Stadt sind seit 2003 Teil des UNESCO-Welterbes.
Sophia Kesting begibt sich mit ihrem Projekt auf die Spur dieser Bauten. Mehrfach fotografierte sie in Tel Aviv, beschränkte sich dabei aber nicht auf die unter Denkmalschutz stehenden Häuser, die nur einen kleinen Teil des Moderne-Bestandes der Stadt ausmachen. In Anlehnung an die 1000 UNESCO-Denkmäler erarbeitet sie vielmehr einen anderen, subjektiven Denkmalkatalog, ergänzt auch um zeitgenössische Bauten, die Merkmale des Internationalen Stils aufgreifen. Kestings rund 1000 Fotografien zeigen Häuser aus verschiedenen Teilen der Stadt, aus dem Zentrum wie aus Vierteln an der Peripherie, die heute von Migrant*innen aus Afrika geprägt sind, ähnlich wie die Weiße Stadt um die Mitte des 20. Jahrhunderts von Migrant*innen aus Europa geprägt war.
In jeder Aufnahme steht ein einzelnes Gebäude im Zentrum. Details aus dem Stadtleben wie parkende Autos und Passanten liefern eine subtile Einordnung des Motivs, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Die Häuser erscheinen so als Solitäre, eingebettet mehr in soziale Zusammenhänge als in einen städtebaulichen Kontext. Kesting verschiebt damit den Blick vom großen Ganzen der Stadtplanung hin zur Vielzahl einzelner Gebäude, die zusammen die Stadt ausmachen. Der Blick weitet sich, über die streng geregelte Denkmalbürokratie hinaus, auf die ständige Veränderung und Entwicklung des architektonischen Erbes in Tel Aviv.
Jedes Motiv findet sich, als Plakat auf einem von drei Stapeln, in der Ausstellung. Besucher*innen können sich eines mitnehmen und generieren so im Verlauf der Ausstellung immer wieder neue Motivkombinationen, mit denen die Diversität der Gebäude in den Ausstellungsraum geholt wird. Im Laufe der Zeit verschwindet Kestings White City schließlich aus dem öffentlichen Raum des Museums und wird Teil des privaten Raums der Ausstellungsbesucher*innen.
"Moderne. Ikonografie. Fototgrafie. Das Bauhaus und die Folgen 1919 - 2019"
21.09.2019 - 9.02.2020
Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg
English version
“WHITE CITY — BLACK CITY”, Stephanie Milling, 2019
Between around 1930 and 1950, in the still young city of Tel Aviv around four thousand buildings were erected along the guidelines of the Bauhaus and the International Style. Immigrants from Europe, most of all Jews fleeing from Nazi Germany, brought the style with them. The urban planning of the Scottish planner Patrick Geddes left room for their implementation, so that Tel Aviv today still has the most buildings in this style. Around one thousand buildings of the White City have been part of UNESCO’s world cultural heritage since 2003.
In her project, Sophia Kesting goes in search of these buildings. She photographed them several times in Tel Aviv, but did not limit herself only to the buildings that have been declared landmarks, which only make up a small part of the city’s modernist architecture. Taking the one thousand landmarked buildings as an inspiration, she creates instead a different, subjective landmark catalogue of buildings, including contemporary ones as well, that take up elements of the International Style. The approximately one thousand photographs show buildings from various parts of the city, from the center and from neighborhoods on the city’s periphery that are today shaped by migrants from Africa, just as the White City was once shaped by migrants from Europe in the mid-twentieth century.
Each photograph focuses on a single building. Details from urban life like parking cars and passersby provide a subtle framing of the motif without dominating the foreground. The buildings appear as solitary, embedded more in social contexts than in an urban environment. Kesting thus shifts the gaze from the overall whole of urban planning to a large number of individual buildings that together make up the city. The gaze expands beyond UNESCO’s strictly regulated landmark bureaucracy to the constant change and development of the architectural legacy in Tel Aviv.
Each motif can be found in the exhibition as a poster on one of three piles. Visitors can take the top poster from each pile, thus over the course of the exhibition generating ever new motivic combinations, bringing the diversity of the buildings into the exhibition space. Over the course of time, Kesting’s White City disappears from the public space of the museum and becomes part of the private spaces of the exhibition visitors.
“Modernism. Iconography. Photography. The Bauhaus and its Effects 1919–2019.”
09-21-2019 until 02-09-2020
Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg
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"Wachstum ohne Ausdehnung", Maren Lübbke-Tidow, 2018
Sophia Kesting arbeitet mit ihren Fotografien und den Formen ihrer Ausarbeitung konsequent gegen ein bildnerisches Ideal – also gegen jene idealtypischen Aufnahmen, denen wir aber so oft begegnen, wenn es darum geht, Architekturen oder städtische Strukturen aufzuzeichnen und irgendwo (in einer Ausstellung, in einem Buch, in einer Broschüre) möglichst störungsfrei in gutem Licht zu zeigen. Kestings Projekt aber ist ein anderes ist, denn hier wird unmittelbar klar: In einem Raum kommt immer mehr zusammen als das, was (konventionelle) Architekturfotografen (und ihre Auftraggeber) sich erträumen. Denn dieser Raum ist durch seine Nachbarschaften und Nutzungen ganz einfach vielfach überschrieben mit Informationen, die auf den Planzeichnnugen der Architekten nicht vorgesehen sind.
Untersuchungsgebiet von Kestings fotografischer Recherche ist der Frachten- und Hauptbahnhof der Tiroler Landeshauptstadt, ein Gebiet, dass stark durch das Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungen geprägt ist: Gartengrundstücke, so wie sie oftmals in der unmittelbaren Nähe von Bahntrassen aufzufinden sind, werden abgelöst von Brachen und / oder angrenzenden Wohnbauten. Genauso haben sich hier – geostrategisch günstig gelegen – lokale und globale Formen und Unternehmen niedergelassen, um einen möglichst reibungslosen Transfer von Gütern und Waren zu gewährleisten. Die unterschiedlichen Bedarfe in diesem gewachsenen Areal sind also manifest, und es steht zu befürchten, dass dieses Nebeneinander von Ungleichem zukünftig einem weiträumigen Flächennutzungsplan wird weichen müssen, um die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Innsbrucks auch weiterhin und mit globaler Perspektive fortschreiben zu können. Das Gebiet befindet sich also im Umbruch.
Sophia Kesting greift die unterschiedlichen Nutzerinteressen auf und stellt sie ineinander. Aber klar ist auch: In diesem Gebiet kann es vorn vornherein auch gar nicht gelingen, zu einer Übersicht gebenden Darstellung zu kommen. Zu viele Perspektiven auf den Raum überschneiden sich. Die Sicht ist verstellt – konsequent ragt immer wieder etwas mit ins Bild, was einer störungsfreien Wiedergabe eines der vielen unterschiedlichen baulichen Ensembles entgegensteht. Diesen Umstand und Seheindruck greift die Künstlerin auf und spitzt ihn zu: Denn sie entschließt sich dazu, Bildhierarchien aufzugeben und im Gegenteil Vorder- und Hintergrund in extremen Perspektiven miteinander verschmelzen zu lassen. Raum zwischen den Architekturen ist als bildstrukturierender Moment genauso wenig in Sicht wie ein Stück Himmel, denn wie wir wissen, ist Innsbruck von Bergen umgeben, deren Wiedergabe als bildlicher Abschluss die Szenen insgesamt noch mehr einschließen.
Mit ihren Bildern macht die Künstlerin Momente der extremen baulichen Verdichtung mehr als deutlich. Durch das Zusammenschneiden ihrer Bilder (ohne Weißraum) zu einem Leporello sowie durch die Produktion einer Schallplatte mit dem Musiker Andreas Trenkwalder, der sich mit diesem Gebiet und seinen Geräuschen in seinen Kompositionen auseinandersetzt hat und die in der Ausstellung anzuhören möglich sein wird, gelingt es Künstlerin darüber hinaus, diesen Eindruck einer verdichteten "Erfahrung ohne Ausweichmöglichkeiten" (Kesting) zu verstärken. In der Ausstellung wird Sophia Kesting ihre Arbeit nicht nur als kleinformatigen Leporello zusammen mit der Schallplatte auslegen, sondern Ausschnitte aus ihrem Bildwerk in Form einer Fototapete an die Wand bringen. Das gewaltige Ensemble aus fragmentierten städtebaulichen Ansichten, untermal durch entsprechende Musik, steht dabei ganz eindeutig in Kontrast zu der homogenen Stadtstruktur, als die sich Innsbruck aber auf den ersten Blick zeigt. Mit Sophia Kestings (und Trenkwalders) Arbeit aber wird greifbar, dass der Preis jeder in ihren Oberflächen noch so glatt erscheinenden Stadt in Zonen abseits der ausgetretenen Pfade aufzufinden ist: in jenen, die aufgrund politischer und wirtschaftlicher Interessen Transformationsprozessen unterworfen sind.
Der Text von Maren Lübbke-Tidow erscheint anlässlich des Kataloges zur Ausstellung:
„Genau da!“, Kunstraum FO.KU.S, BTV Stadtforum Innsbruck, 2.10 .2018– 4.1.2019
English version
“Juxtaposition of the unequal”, Maren Lübbke-Tidow, 2018
Sophia Kesting consistently works with her photographs and the forms of their elaboration against a pictorial ideal – that is, against those typical shots of ideals that we encounter so often when it comes to architecture or urban structures, to record and show (in an exhibition, a book, a booklet) in as undisturbed and positive a state as possible. Kesting’s project is something different, because with her work it becomes immediately clear that in a single room more forces come together than (conventional) architectural photographers (and their clients) could ever dream of. Each space is overwritten multiple times with information from its neighbourhoods and uses that are not provided for in the architects’ plan drawings.
The area of study for Kesting’s photographic research is the freight and central station of the capital of Tyrol, an area strongly characterised by the juxtaposition of different uses: garden allotments, often found in the immediate vicinity of railway lines, are replaced by fallow land and/or adjacent residential buildings. In the same way, local and global enterprises and companies have harnessed the geostrategic benefit of the place and settled here to ensure the smoothest possible transfer of goods and commodities. The different needs in this expanding area are therefore manifest, and it is feared that this coexistence of unequal forces will ultimately have to give way to a large-scale land-use plan to be able to continue the economic success story of Innsbruck in a global sense. The area is thus in a state of transition.
Sophia Kesting seizes the different user interests and puts them together. But it is also clear that from the outset, it is not possible to create a representation that provides a comprehensive overview of this area. Too many perspectives in the space overlap. The view is obscured – something always commands attention in the picture, which prevents an undisturbed reproduction of one of the many different architectural ensembles. The artist seizes this fact and visual impression and highlights it: she opts to completely abandon image hierarchies, instead merging the foreground and the background in extreme perspectives. Visually speaking, space between the different architectural structures is as minimal as a piece of the sky; as we know, Innsbruck is surrounded by mountains whose reproduction as a visual conclusion serves to integrate these scenes even more comprehensively.
The artist makes moments of extreme structural condensation utterly clear through her images. By collating her images (without white space) into a flyer and through the production of a record with the musician Andreas Trenkwalder, who has addressed this area and its sounds in his compositions, the artist succeeds in achieving this impression of a condensed experience without developing alternatives. In the exhibition, Sophia Kesting will not only present her work as a small-format flyer with the vinyl record, but will display excerpts from her work on the wall in the form of photo wallpaper. The huge ensemble of fragmented views of urban planning, accompanied by corresponding music, stands in stark contrast to the homogeneous urban structure that Innsbruck reveals at first sight. With Sophia Kesting’s (and Trenkwalder’s) work, however, it becomes evident that it pays to go off the beaten track when visiting a city that appears so smooth on its surface: These less popular areas are subject to transformational processes due to political and economic interests.
The text by Maren Lübbke-Tidow is published on the occasion of the exhibition catalog: “Right there”, Kunstraum FO.KU.S, BTV Stadtforum Innsbruck, 10-02-2018 until 01-04-2019