"Spuren von Verwitterung und Erinnerung an Verbitterung. Sophia Kesting und Dana Lorenz, Asphalt, Steine, Scherben",
Anna-Lena Wenzel, Camera Austria International No. 169, 2025
Eine besprayte Brunnenschale, ein Birkenstumpf, ein verkohlter Ast, zwei Personen auf einer undefinierten Fläche, der geteerte Boden aufgebrochen von Gras. Innenansichten eines leerstehenden und verfallenen Gebäudes, eine Gruppe von Menschen mit einem Banner von hinten. Es sind Aufnahmen, die Sophia Kesting und Dana Lorenz auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig über einen Zeitraum von zwölf Jahren gemacht haben. Während dieser Zeit war der Platz inmitten der Stadt eine Brache – und die meisten der sich auf ihm befindenden Gebäude außer Betrieb. Die Fotografien fangen mithin einen Ort der Transformation ein – und halten sowohl den Verfall und den Vandalismus fest als auch die Nutzung des Geländes durch Menschen und Natur. Zur Tristesse gesellen sich Aufnahmen von Gesten der Aneignung und Momenten des Zusammenhalts.
Im Klappentext heißt es: »Wir fragen uns: Sind wir die Dritte Generation Ost oder Wendekinder oder Generation Einheit oder Generation Y?«
Durch dieses autobiografische Statement wird das Buch zur Dokumentation eines urbanen ostdeutschen Platzes und zu einer biografischen Befragung. Die Fotografinnen sind beide in der DDR geboren, Kesting 1983 in Leipzig, Lorenz 1984 in Ost-Berlin. Kennengelernt haben sie sich während des Studiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in der Klasse für Fotografie und Medien von Joachim Brohm. Als Studienprojekt 2012 begonnen, kommt das Langzeitprojekt mit der Publikation Asphalt, Steine, Scherben nun an sein (vorläufiges) Ende. Es baut auf einem Fundus von 1500 analog fotografierten Bildern auf, die zumeist mit zwei Mamiya-7-Mittelformatkameras (Baujahr 1995) und mehrheitlich schwarz-weiß fotografiert worden sind. Viele der Außenfotos sind nachts mit »hartem Blitz« entstanden, wie Lorenz bei der Buchpräsentation im Vexer Verlag erzählt, was dazu führt, dass die Fotos durch starke Kontraste und viel Schwarz geprägt sind. Hinzu gesellen sich Innenaufnahmen aus dem »Bowlingtreff«, eine Freizeitsportstätte, die 1986/87 in postmodernem Stil gebaut und 1997 geschlossen wurde. Von diesen oftmals nur fragmentarisch festgehaltenen Szenen heben sich die farbigen »Asphaltfotos« ab, die im Buch zusammen mit Textfragmenten kombiniert werden und auf dünnerem, ungestrichenem Papier gedruckt sind. Die Text-Bild-Blöcke verteilen sich über das ganze Buch und ziehen eine weitere Ebene ein, die sich von dem konkreten Ort wegbewegt.
In den kurzen Fragmenten werden allgemeine Fragen (Wie wird erinnert? Wie erzählt man das Abwesende?) mit Erinnerungssplittern von Kesting und Lorenz kombiniert. Geschildert werden Szenen ihrer Kindheit und Jugend, in denen spezifische Ost-Erfahrungen dominieren und die bis jetzt zu selten erzählt worden sind. Sie klingen wie das Gegenteil von behüteter Kindheit: Die Rede ist von Unsicherheit und vom Außer-Rand-und-Band-Sein. Ein unerlaubter Einstieg in eine Kirche ist ebenso Thema wie die Angst vor Neonazis. Gleichzeitig werden eingeschriebene Narrative hinterfragt, wenn von der Freude über die Rückkehr nach Leipzig und den überforderten westdeutschen Lehrer*innen die Rede ist.
Die Nachwendezeit wird auf diese Weise doppelt umkreist: Biografische Erinnerungen, die exemplarisch für die Generation der Wendekinder gelten können, wechseln sich mit Bildern eines öffentlichen Platzes ab, dessen Vernachlässigung und schleppende Veränderung exemplarisch für den Umgang mit DDR-Architekturen gesehen werden kann. Dabei erheben die Fotografinnen weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Deutungshoheit. Dass diese Pendelbewegung so gut funktioniert, ist auch dem präzisen wie persönlichen Text von Christin Müller zu verdanken, der sich wie ein Leporello gefaltet im Umschlag befindet. Müller greift den Ton des Buches auf, wenn sie die Arbeit kontextualisiert und wertvolle Hintergrundinformationen liefert und sich gleichzeitig in Ich-Form (als Leipzigerin und Wendekind) mit hineinschreibt. Ansonsten wird auf weiterführende Informationen zu den Künstlerinnen ebenso verzichtet wie auf Erläuterungen zu den Fotos. Wann sie entstanden sind, welchen Moment sie festhalten oder wer sie gemacht hat, ist für die Künstlerinnen nicht relevant, auch weil sie Asphalt, Steine, Scherben als Gemeinschaftsprojekt verstehen. Auf diese Weise zieht sich eine gewisse konzeptuelle Strenge ebenso durch das Buch wie eine persönliche Verankerung.
Diese spiegelt sich auch in den Fotos wieder, in denen man Hände oder Arme sieht, die auf fotografierte Objekte zeigen oder diese anfassen. Sie bringen die Körper (der Fotografinnen) ins Spiel und können als eine Geste der Aneignung gelesen werden.
Das Buch mit seiner sorgfältigen wie stimmigen Gestaltung bildet den bleibenden Abschluss eines Projekts, das immer wieder unterschiedliche Aggregatzustände angenommen hat. Dies gilt auch für den Wilhelm-Leuschner-Platz, dessen Zeit als Brache besiegelt zu sein scheint: Die Umgestaltung des Platzes sowie der Wettbewerb für das Freiheits- und Einheitsdenkmal sind 2024 beschlossen beziehungsweise entschieden worden, zum Süden wird zur Zeit das Leibniz-Institut für Länderkunde gebaut. Die Zeit der Unbestimmtheit, die zugleich eine der Offenheit des physischen Raums und der Öffnung für mögliche Zukünfte war, ist damit endgültig vorbei.
Dr. Anna-Lena Wenzel ist Autorin und Künstlerin und lebt in Berlin (DE). Im Sommer erscheint ihr Buch Freundschaft im Textem Verlag (DE).
Sophia Kesting und Dana Lorenz haben über zwölf Jahre Zustände und Zeitschichten des Leipziger Wilhelm-Leuschner-Platzes fotografiert. Daraus entstand das bemerkenswerte Buch „Asphalt, Steine, Scherben“.
Der Wilhelm-Leuschner-Platz mitten in der Großstadt Leipzig: Fast jeder kennt ihn, hat ihn überquert. Ein Transitraum, ein Übergangszustand, jahrzehntelang zwischen nicht mehr und noch nicht. Immer wieder neu beplant, beschrieben und sich doch störrisch Vereinnahmungen und Ideologien widersetzend. Halb bebaut, halb Brache. Ort für Veranstaltungen und Demonstrationen. Geplanter Standort des Einheits- und Freiheitsdenkmals. Baustelle für Naturkundemuseum und Leibniz-Institut für Länderkunde. Streitort: Wie geht man mit der DDR-Architektur um?
Sophia Kesting und Dana Lorenz haben diesen Ort und seinen Schwebezustand über einen Zeitraum von zwölf Jahren fotografisch erforscht, mit eigenen biografischen Erfahrungen verwoben, sich selbst eingeschrieben. Über 1500 analoge Mittelformataufnahmen entstanden 2012 bis 2024, die meisten in Schwarz-Weiß. Ein Langzeitprojekt, das jetzt mit dem im Vexer Verlag erschienenen Buch „Asphalt, Steine, Scherben“ abgeschlossen wurde; es enthält rund 250 Fotos.
In diesem Buch, in diesen Bildern (ver)fließt alles: der Asphalt in der Sommerhitze, die Zeit, die Zustände, auch die Urheberschaft. Sophia Kesting wurde 1983 in Leipzig, Dana Lorenz 1984 in Ostberlin geboren, beide haben 2018 ihr Fotografie-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig als Meisterschülerin bei Joachim Brohm abgeschlossen. In ihrem Buch treten sie gemeinsam als Foto-Autorinnen auf. Es enthält keine Seitenzahlen. So hat es keinen Anfang und kein Ende, man kann über die letzte Seite und den Umschlag wieder neu in den Strom gleiten.
Kesting und Lorenz zeigen Asphalt, Steine und Scherben. Bremsklötze, Kerzen, Bewuchs, abgesägte Stämme. Sträucher, die sich zwischen Ziegeln hervorgekämpft haben. Zarte Blumen und Blätter in der Nacht. Menschen, Party-Hinterlassenschaften, ihre eigene Kamera, Geröll-Stillleben, Müll. Kesting und Lorenz fotografierten auch im ehemaligen Bowlingtreff: Treppen, Architektur, Kabel, Schaltkästen, Graffiti, Stühle. Siedlungsreste einer jüngeren Vergangenheit.
Politische Debatten, historische Schichten
Der Impuls dafür, sich mit dem Platz zu beschäftigen, sei vor über zehn Jahren aus dem Hochschulkontext gekommen, „und wir sind dann irgendwie daran kleben geblieben“, sagt Sophia Kesting. „Die ursprüngliche Idee war, die Transformation zu begleiten, die ab 2014 mit einer Bebauung beginnen sollte. Das ist dann aber nicht eingetreten, und wir haben die stadtpolitischen Debatten, die Auseinandersetzung über den Umgang mit DDR-Erbe und -Architektur eingearbeitet.“ Mehr und mehr sei dann auch die eigene Herkunft und Sozialisation zum Thema geworden. Dana Lorenz: „Wir fragten uns, welche Beziehung haben wir eigentlich zu der Architektur, zu dem geplanten Denkmal und den Auseinandersetzungen darüber, zu den historischen Schichten dieses Platzes?“
Auf den Fotos ist der Wilhelm-Leuschner-Platz selten und wenn, dann nur vage erkennbar, manchmal taucht Randbebauung am Bildrand auf. Kesting und Lorenz nehmen ihn als Bühne für Vergewisserungen und Verluste, Erinnerungen und Fragen. Ihre Fotos wirken wie eine Suche in einer ungefähren Landschaft. Auf der Innenseite des Umschlags ist eine Nahaufnahme halb geschmolzenen Asphalts zu sehen, darauf Steinchen, Linien, Kerben. Oder sind es Narben? Es könnte auch die Luftaufnahme einer Wüste sein. Ein kurzer Klappentext gibt eine Art leitmotivisches Rauschen vor: „Wir fragen uns: Sind wir die Dritte Generation Ost oder Wendekinder oder Generation Einheit oder Generation Y? Es ist eher ein Gefühl, das in unseren Körpern feststeckt – eine eingeschriebene Zeit auf der Suche nach Wörtern für eine eigene Sprache.“
Erinnerungen an die Montagsdemonstrationen
Kurze ins Buch eingestreute Texte mit fragmentarischen Gedanken umkreisen Aufbruch und Angst in der Wendezeit, Hoffnungen und Enttäuschungen. Es geht um die „posttraumatische Verbitterungsstörung“, die DDR-Bürgern zuweilen attestiert wird und das eigene jugendliche „Außer-Rand-und-Band-Sein“ oder um frühe Erinnerungen an die Montagsdemonstrationen in Leipzig: „Ich sitze auf den Schultern meines Vaters. An manchen Abenden halte ich dabei ein Schild hoch, das wir vorher geschrieben oder gemalt haben. Die Arme werden mir schwer beim Halten, viele Leute lächeln zu mir hoch.“ Kesting und Lorenz haben die Szene andeutungsweise im Dunkel nachinszeniert, das dabei entstandene Foto ist das Covermotiv.
Ins Buch eingelegt ist ein Essay der Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Christin Müller, überschrieben mit „Auf einem Platz vagabundierende Zeit“, in dem sie Lorenz‘ und Kestings Fotos, die Geschichte und Schichten dieses Platzes und seine politischen Übermalungen in Beziehungen stellt. Müller schließt mit dem Satz: „Bevor etwa Neues entsteht, können wir mit diesen Momentaufnahmen auf dem Platz innehalten und mit dem Wissen um die Vergangenheit selbst über die Zukunft spekulieren.“
Poetische Erkundung von Gedankenräumen
„Asphalt, Steine, Scherben“ ist keine Dokumentation eines Ortes, sondern eine poetische Erkundung von Gedankenräumen, ein Kunstwerk in Bildern. „Wir verdichten Bildräume, auch Themen, bleiben an bestimmtem Material oder einer bestimmten Atmosphäre dran. Aber es geht nicht darum, irgendeine Erzählung linear in dieses Buch zu bringen, sondern darum, ein weiches Bildkonvolut zu präsentieren, aus dem sich immer wieder neue Konstellationen ergeben“, sagt Dana Lorenz. Viele der Fotos sind Nachtaufnahmen, ins Dunkel geblitzt, was Hintergründe, Konturen verschwinden lässt und das Einzelne mit etwas Allgemeinem, Grundsätzlichem verbindet. Und dabei, so Kesting, „haben wir auch unsere fotografischen Bildsprachen abgetastet, sie vermischt und etwas Gemeinsames entwickelt, das als Summe mehr ist als seine Teile“.
Mit dem Buch ist dieser Prozess so wie das ganze Projekt abgeschlossen. Und beide finden, dass sie dafür einen glücklichen Zeitpunkt erwischt haben. „Ich freue mich, dass sich auf dem Platz nun etwas konkretisiert, und darauf, dann in das Naturkundemuseum zu gehen“, sagt Sophia Kesting. Dana Lorenz: „Für uns war es ein toller Möglichkeitsraum. Wir konnten hier das verhandeln, was uns wichtig war. Und jetzt ist es gut.“
Info: Sophia Kesting, Dana Lorenz: Asphalt, Steine, Scherben. Vexer Verlag; 296 Seiten, mit eingelegtem Leporello (Text: Christin Müller), 48 Euro; www.asphaltsteinescherben.de. In Leipzig gibt es das Buch unter anderem im MZIN im Museum der bildenden Künste sowie bei Rotor Books in der Kolonnadenstraße.
Es gibt nur noch wenige Plätze in meiner Umgebung, wo Spuren verschiedener Gegenwarten so roh nebeneinanderliegen, sich ergänzen und durchmischen, sich widersprechen und ins Offene führen. Viele Plätze sind gleichmäßig zubetoniert, ebenmäßig, nach einer DIN-Norm geglättet, damit keine Stolperfallen entstehen. Auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz wechselt der Untergrund dagegen von altem, brüchigem Asphalt über Kies zu Wiese zu Gehwegplatten zu Kopfsteinpflaster zu Sand und zurück. Dazwischen vagabundieren Scherben und Steine, wuchern Unkraut, Sträucher, Bäume – und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Bebauung ist spärlich, ihre Funktion schwierig einzuordnen. Der Platz fristet seit vielen Jahrzehnten ein Dasein als Brache mit gelegentlicher Nutzung, obwohl er rund sechs Hektar groß ist und sich mitten im Zentrum der Stadt Leipzig befindet. Im Umbruch der Nachwendezeit stellte so eine urbane Leere einen Möglichkeitsraum dar, in dem man gedanklich zwischen Aufbruch und Depression pendeln konnte. Leipzig gehörte zu den schrumpfenden Städten in Ostdeutschland. Bis Ende der 1990er Jahre verlor die Stadt rund zehn Prozent ihrer Bevölkerung durch Wegzug und sinkende Geburtenraten. Seit 2010 kehrt sich der Trend um. Inzwischen ist die Bevölkerung um zwanzig Prozent gewachsen und die Stadt verdichtet sich. Freiraum wird Mangelware. Eine so große zentrale Brache wie die des Wilhelm-Leuschner-Platzes ist ungewöhnlich und auf merkwürdige Weise anziehend.
Der Wilhelm-Leuschner-Platz ist mir vertraut. Ich bin in Leipzig aufgewachsen und lebe seit ein paar Jahren wieder hier. Beim Versuch, mich an Beobachtetes oder Erlebtes aus meiner Kindheit zu erinnern, das in Zusammenhang mit dem Platz steht, finde ich nur unscharfe Bilder in meinem Gedächtnis. Sie passen gut zum gegenwärtigem Zustand. Den Platz überquere ich oft, aber meist ohne ihn als eigenen Ort wahrzunehmen. Es ist ein Transitraum, über den ich lieber mit dem Fahrrad fahre, statt über ihn zu laufen, weil es schneller geht. Etwas zu sehen oder Gründe, sich aufzuhalten, gibt es auf den ersten Blick kaum.
Sophia Kesting und Dana Lorenz widmeten sich mit ihrer Arbeit Asphalt, Steine, Scherben rund zwölf Jahre lang den Zuständen und Zeitschichten des Wilhelm-Leuschner-Platzes. In den Rissen im Asphalt, den Überresten der architektonischen Bebauung, den Zusammenkünften von Personen suchen sie nach dem Spezifischen, was diesen Ort ausmacht, nach seiner Geschichte und auch seinem Potenzial. Ab 2012 entstanden rund 1.500 analog fotografierte Bilder, im Mittelformat und mehrheitlich in Schwarzweiß. Auf den Bildern ist der Platz kaum in seiner Weite zu sehen, sondern er erscheint in seinen vielen Fragmenten und der andauernden Unfertigkeit wie eine Kulisse, deren viele Schichten sich in Asphalt, Steine, Scherben entfalten. Die Künstlerinnen beobachten die urbane Freifläche vielmehr wie eine Bühne, begeben sich in ihre Mitte und betrachten Natur, Architektur und Hinterlassenschaften verschiedener Nutzungen meist aus der Nähe. Sie verfolgen die gesellschaftspolitischen Debatten um die Gestaltung des Platzes und die Versuche, ihn mit Ideen und Ideologien zu besetzen. Sie beschäftigen sich mit den Personen, die den Platz für ihre Sehnsüchte, Freuden und Forderungen nutzen und als Vertreter:innen einer Nachwendegeneration mit dem stadtgeschichtlichen Erbe umgehen müssen. Dass Sophia Kesting und Dana Lorenz als Duo agieren macht aus einer dokumentierenden Beobachtung einen produktiven Dialog, der schließlich in einen langjährigen Austausch darüber mündet, wie sie sich gegenüber dem Platz positionieren und dies fotografisch aufnehmen können.
Mit ersten Fotografien betreten wir den Wilhelm-Leuschner-Platz in der nächtlichen Dunkelheit. Sophia Kesting und Dana Lorenz blitzen sich in die Nacht hinein und erzeugen so einen konzentrierten Blick. Sie stellen das Fotografierte frei, während der Hintergrund im Schwarz versinkt. Die Beobachtungen bleiben Andeutungen, die mal leichter, mal schwerer einzuordnen sind. Motivisch bestimmen zunächst die Natur, die sich ihren Raum nimmt, und Spuren von menschlichen Handlungen die Aufnahmen. Leere Betonblumenkästen, längst abgesägte Bäume und verkohlte Äste, Bodenkacheln inmitten von Wildwuchs, mit Graffitis besprühte Gebäudeteile, ein Prellstein ohne das Gebäude, das er schützen soll, ein aufgebrochener oder eingefallener Eingang in ein Kellergewölbe. Zwischen den dunklen Bildern leuchtet das helle Abbild eines Destilliergeräts auf. Das Gerät ist so rätselhaft wie seine Anwesenheit irgendwo auf dem Platz. Zwei Personen durchschreiten im Huckepack die Dunkelheit. Der versperrte Blick auf den Kontext dieser fotografischen Beobachtungen erzeugt ein Vakuum. In einem weiteren Bild wachsen, symbolisch aufgeladen, dicke Wurzeln zwischen gleichmäßig platzierten Ziegelsteinen durch. Nach oben wurde dieser Verwuchs mit Asphalt verschlossen und liegt hier frei wie ein Schnitt durch die Zeit. Darüber ist längst Gras gewachsen. Ungefähr bis in sechs Meter Tiefe reichen solche komprimierten anthropogenen Ablagerungen auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz, bevor die geologischen Schichten beginnen.
Die Arbeit Asphalt, Steine, Scherben begannen Sophia Kesting und Dana Lorenz mit Ende zwanzig während ihres Studiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig in der Klasse für Fotografie und Medien von Joachim Brohm. In diesem Alter und zu diesem Studienzeitpunkt probieren viele künstlerische Sprachen aus, emanzipieren sich und entwickeln eine eigene künstlerische Haltung. Dazu passt, dass sich Sophia Kesting und Dana Lorenz mit dem Wilhelm-Leuschner-Platz ein Sujet ausgesucht haben, dass sich als Jahrzehnte währende Brache in einem Zustand der Schwebe befindet – in Hinblick auf die städtebauliche Gestaltung und stadtpolitische Entwicklung. Mit Joachim Brohm verbindet sie ein Interesse am urbanen Raum. Für seine Arbeit Areal fotografierte er über mehrere Jahre, zwischen 1992 und 2002, die Schichtungen und Veränderungen eines Gewerbe- und Industrieareals im Norden von München. Wie Sophia Kesting und Dana Lorenz kehrte er mehrfach zurück, um diesen Ort zu befragen, der ähnlich schwer zu fassen war. Das Münchner Areal charakterisiert weniger eine Leere als eine Überfülle von Dingen. Es bietet viele visuelle Ankerpunkte, während sich der Wilhelm-Leuschner-Platz einer einfachen Lesbarkeit sperrt und sich seine charakteristische Gestalt erst in visuellen Tiefenbohrungen entfaltet.
Biografisch lohnt es sich in Bezug auf Sophia Kesting und Dana Lorenz und den fotografierten Platz, ein paar Schritte weiter zurückzugehen, um das Hintergrundrauschen, das Asphalt, Steine, Scherben begleitet, etwas klarer zu fassen. Dana Lorenz kam 1984 in Ostberlin zur Welt und Sophia Kesting wie ich 1983 in Leipzig. Wir wurden in den 1980er Jahren in ein Land hineingeboren, das noch 1989 sein vierzigjähriges Bestehen feierte und kurze Zeit später nicht mehr existierte. In der Nachwendezeit waren wir als Jugendliche Zeuginnen der Euphorie des Aufbruchs, von Hoffnung und ihrer Enttäuschung, unserer sich rasant verändernden Alltagswelt und auch einer großen Ratlosigkeit. Viele Möglichkeiten standen plötzlich vor uns und unseren Familien und gleichzeitig irgendwie auch nicht. Anett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann sprechen in ihrem jüngst erschienenen Buch „lieber von ostdeutschen Erfahrungen als von einer ostdeutschen Identität, denn Letzteres klingt gleich wieder so fest und nicht mehr nach einem fluiden, sich ständig verändernden Konstrukt, das uns übergestülpt wird, das wir herbeireden, das wir aus Erinnerungen und Prägungen immer wieder zusammensetzen“. Wie das Leben in Ostdeutschland vor und nach 1990 verlief, war zu unterschiedlich, um es mit der Zuschreibung auf eine typische, von einem Staat dominierte Identität fassen zu können. Es lohnt sich vielmehr, den individuellen Prägungen nachzugehen und zu beobachten, wie unterschiedlich wir uns an Erlebtes erinnern und wie wir daran in Zukunft anknüpfen.
Sophia Kesting und Dana Lorenz öffnen mit kurzen, zwischen ihre Bilder gesetzten Texten kleine Zeitkapseln. Mit fragmentarischen Erinnerungen rufen sie Erlebtes wach, beschreiben Gesehenes, Gehörtes, Gerochenes und Gefühltes und auch das, was sie nicht wissen oder woran sie sich nicht erinnern. Sie versuchen mit Worten zu fassen, wie sich Geschichte in Körper einschreibt, wie wir uns Vergangenheit einverleiben und wie wir dem Vergangenen in der Gegenwart begegnen. Die Erinnerungssplitter fügen sich zwischen die Fotografien wie ein Subtext ein, heben die eigene Prägung hervor. Punktuell verschieben die Splitter so die Blickrichtung vom Wilhelm-Leuschner-Platz als öffentlicher Ort auf individuelle Erlebnisse von zwei Personen, von denen manche als generationsübergreifend beschrieben werden können und sich an andere kaum jemand auf diese Weise erinnert.
Wie die eingestreuten Erinnerungssplitter hat auch die Geschichte des Wilhelm-Leuschner-Platzes viele offene Enden. Einige wurden zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen, andere sind verschüttet oder in ihrer Rohheit schwer lesbar. Ursprünglich hieß der Platz Königsplatz. Ab Ende des 19. Jahrhunderts, während des Umbaus Leipzigs zur Industrie- und Messestadt, erhielt er repräsentative Gebäude, eine Markthalle, ein Museum, ein Panorama, ein Kino, Hotels und Warenhäuser. Mitte der 1920er Jahre kam ein Umspannwerk zur gleichmäßigen Stromversorgung der Innenstadt dazu, das zusätzlich zu den unterirdischen Lagerräumen der Markthalle die Unterhöhlung des Platzes vorantrieb und bis Mitte der 1960er Jahre in Betrieb war. Ein weiterer Ausbau erfolgte wegen des schweren Luftangriffs in der Nacht vom 3./4. Dezember 1943 nicht mehr. Die Bomben beschädigten große Teile der innerstädtischen Bebauung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekam der weitestgehend zerstörte Königsplatz und seine nähere Umgebung den Namen des Widerstandskämpfers Wilhelm Leuschner, der sich 1944 am Attentat auf Hitler beteiligt hatte. Die Gebäudetrümmer dieses Platzes, wie auch die der ganzen Stadt, wurden bis Mitte der 1950er Jahre mit Trümmerbahnen abtransportiert. Ein Teil des Kriegsschutts befindet sich bis heute in den Kellerräumen der Zentralmarkthalle, fragmentarische Überreste der zerstörten Gebäude stehen für die Stein gewordene Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und wurden von Sophia Kesting und Dana Lorenz fotografiert.
Dokumentiert hat diese Trümmerarbeit der Nachkriegszeit unter anderem Johannes Widmann, der seit 1946 Professor für Fotografik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst war. Er nahm den schollenhaften Schutt häufig aus ihrer Mitte heraus auf. In seinen Fotografien ragen neben den Trümmerbahnen noch Gebäudereste und verbogener Stahl aus den Schuttbergen heraus. Die aufgestapelten Ziegelsteine wirken wie ein Versprechen an die Zukunft, dass aus dieser Unbestimmtheit des Ortes wieder etwas Neues erwachsen kann. Einige der damaligen Gebäudebesitzer:innen prüften die Statik der beschädigten Häuser und stellten Anträge zum Wiederaufbau, die jedoch abgelehnt wurden. So wurde der Wilhelm-Leuschner-Platz bereits in dieser Zeit ein Ort in der Schwebe. Als Sophia Kesting und Dana Lorenz rund fünfzig Jahre später begannen, auf dem Platz zu fotografieren, bestand die Schwebe fort, sie hatte nur eine andere Gestalt angenommen.
Nach Abriss der Gebäuderuinen bis Ende der 1950er Jahre bekam der Platz sein heutiges Antlitz, war weitgehend eingeebnet und asphaltiert, Sträucher und Bäume begannen von den Rändern her zu wuchern. Lediglich ein Fußgängertunnel in Richtung Stadtzentrum entstand 1975 und 1986/1987 der Bowlingtreff. Seit den frühen 1990er Jahren debattieren verschiedene Akteur:innen darüber, wie eine Neubebauung die Brache wiederbeleben kann. 2011 entschied der Stadtrat, dass ein Freiheits- und Einheitsdenkmal auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz an die Friedliche Revolution von 1989 erinnern soll. Mehrfach entwarfen Architekturbüros neue Bebauungspläne. Diverse Wettbewerbe fanden statt, Entscheidungen wurden aufgrund von zu großem Widerstand innerhalb des Stadtrats verworfen. Inzwischen musste der Fußgängertunnel einer unterirdischen S-Bahn-Strecke weichen. Es wurde abschließend entschieden, dass eine neue Markthalle, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Wohnungen und eine Parklandschaft gebaut werden sollen. Im Jahr 2022 startete ein zweites Wettbewerbsverfahren für das Denkmal und vor kurzem hat der erste Aushub einer Baugrube am Südostende des Platzes begonnen.
Ein großer, leerer und zentral gelegener Platz ist eine ideale Fläche für Zusammenkünfte von Menschen, um ihre Interessen, Forderungen und Begierden in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Veranstaltungen der Stadt, die Initiativen von Vereinen und die Demonstrationen, die auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz stattfanden, spiegeln paradigmatisch die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts: Das großstädtische Flair, das Anfang des 20. Jahrhunderts mit den neuen Einkaufs- und Unterhaltungseinrichtungen auf dem Platz aufkam, fand 1938 ein jähes Ende. In der Reichspogromnacht wurden die drei ansässigen jüdischen Kaufhäuser zerstört. Noch unter Eindruck des Kriegs wurde 1954 unter dem Motto „Seid fröhlich in Hoffnung“ der gemeinsame evangelische Kirchentag der BRD und DDR eröffnet. 1959 betonte der Außenminister der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, bei der Eröffnung der Frühjahrsmesse die neue deutsch-sowjetische Freundschaft. Rund zweitausend „Beat-Freunde“ demonstrierten 1965 gegen das Verbot von Beatmusik in der DDR und wurden dafür massiv von der Volkspolizei angegriffen. Die Montagsdemonstrationen von 1989 führten am Wilhelm-Leuschner-Platz vorbei. Weitestgehend unsichtbar und unbehelligt feiern bis in die frühen 2000er Jahre hunderte Raver:innen im Kellergewölbe der ehemaligen Markthalle, mitten in der Stadt und ohne öffentliche Genehmigung und Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren versammeln sich Menschen zu Klimastreiks oder für Widerstand gegen rechts. Dazwischen diente der Wilhelm-Leuschner-Platz als Parkplatz und Ort für Volksfeste oder einfach dem Verweilen oder Herumstreunen. Wie prägen solche Ereignisse einen Platz und welche Spuren sind noch auffindbar?
Diese Ereignisse spiegeln sich in der gegenwärtigen Nutzung, die Sophia Kesting und Dana Lorenz fotografiert haben. Auf ihren Bildern sind Personen zu sehen, die auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz stehen, hocken, sitzen, liegen und dabei erstaunlich indifferent wirken. Aus dem Zueinander der Körper lässt sich eine gewisse Verbundenheit ablesen. Ob sie feiern oder demonstrieren, ist schwer zu unterscheiden. Für beides gibt es Raum genug. Die fotografierten Personen sind mehrheitlich in einem ähnlichen Alter wie die Künstlerinnen. Sie stehen für eine Nachwende-Generation, die mit dem Erbe umgehen muss und die Entwicklung der Stadtgesellschaft gestalten kann. Auf zwei Aufnahmen schaut ein Mann fragend in Richtung Himmel, als wäre dort etwas Ungewöhnliches, vielleicht sogar Beunruhigendes zu sehen. Was das ist, erfahren wir nicht, aber im Hintergrund verorten das Neue Rathaus und das City-Hochhaus die fotografierte Situation beiläufig im städtischen Kontext des Leipziger Zentrums. Auf zwei weiteren Porträts schauen die fotografierten Personen direkt in die Kamera und damit aus dem Buch heraus. Ihre fragenden, bestimmten, kritischen Blicke gelten uns als Betrachter:innen beim Blättern durch das Buch. Unsicherheit trifft uns bei einer jungen Frau, die vor einem verwitternden Eisentor steht. Mit ihrem Blick fragt sie, ob sie eintreten soll oder nicht – und im übertragenen Sinne, ob sie sich eines Ortes bemächtigen kann oder nicht. Einen Widerhall findet dieses Gefühl der Unsicherheit in einem Wahlplakat ohne Motiv. Es hängt an einem Laternenpfahl wie eine Projektionsfläche für diverse Wünsche und Parolen. Diese zu füllende Leerstelle findet eine Fortsetzung in Transparenten, die Sophia Kesting und Dana Lorenz in der Rückansicht sichtbar machen. Von anderen Plakaten und Fahnen sind Ausschnitte zu sehen, die eine bedeutungsvolle Symbolik tragen. Die Forderung „Refugees Welcome“ steht für die Anti-Legida-Bewegung, eine Katze für Antifaschismus und Anarchie. Beides können wir nur entschlüsseln, wenn wir die Fragmente einordnen können. Zugleich zeigen uns die Symbole, auf welchen Demonstrationen sich die Künstlerinnen bewegt haben. Eine fundamentalere Kritik repräsentiert eine Deutschlandflagge mit ausgerissenem goldenen Streifen. Ob sie sich mit der Motivation deckt, mit der Ende der 1980er Jahre Hammer, Zirkel, Ährenkranz als Repräsentanten des Sozialismus aus DDR-Fahnen herausgeschnitten wurden, oder ob sie die Nationalstaatlichkeit grundlegend in Frage stellt, bleibt offen.
In Asphalt, Steine, Scherben hallt durch die fragmentarisch aufgenommenen Körperhaltungen und die gewählte Lichtstimmung die Bewegung von 1989 nach, als Bürger:innen im Kampf für freie Wahlen und ein freies Land um den Innenstadtring liefen. Ende der 1980er Jahre fanden die Proteste in den Abendstunden statt, weil sich die Dunkelheit schützend über die Demonstrierenden legte. Anders als Sophia Kesting und Dana Lorenz verwendeten die Fotograf:innen vor dem Mauerfall keinen Blitz, um nicht von der Staatssicherheit aufgespürt zu werden. Um die Geschehnisse dennoch möglichst detailreich festzuhalten, organisierte Evelyn Richter, damals Dozentin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, durch ihre Westkontakte hochempfindliche Filme und übergab sie den Studierenden mit den Worten: „Jetzt seid ihr dran!“ Sie selbst sei dafür zu alt, aber hier passiere gerade Weltgeschichte, die festgehalten werden muss.
In der Mitte von Asphalt, Steine, Scherben befinden sich drei Porträts von Frauen, die sich durch ihre Inszenierung von den anderen unterscheiden. Alle drei waren in Bowlingcentern tätig, eine der Frauen sogar im Bowlingtreff auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Mit ihnen geben Sophia Kesting und Dana Lorenz der 1997 geschlossenen Freizeitsportstätte gegenwärtige Gesichter. Das Gebäude ist ein wichtiger Protagonist auf dem Platz und hat eine abenteuerliche Geschichte. Als visionäres Projekt unterbrach die Planung des Bowlingtreffs den Stillstand auf dem Platz und reagierte auf die zunehmend schlechte Stimmung innerhalb der Stadtbevölkerung. Als eines der wenigen ostdeutschen Vertreter postmoderner Architektur wurde das Gebäude 1986/1987 gebaut und bot die Möglichkeit, die US-amerikanische Sportart Bowling auszuüben, Billard zu spielen, Spielautomaten und einen Fitnessraum zu nutzen. Der Rat der Stadt Leipzig meldete den Finanzierungsbedarf und die Bauplanung nur stückchenweise nach Ostberlin. Die Baustelle begann mit den unterirdischen Etagen im stillgelegten Umspannwerk und war dadurch zunächst weitestgehend unsichtbar. Als das Budget fast aufgebraucht war, setzten die Bauleiter sogenannte „örtliche Reserven“ ein. Im Fall des Bowlingtreffs bedeutete dies, dass Bewohner:innen der Stadt freiwillig mit unzähligen Arbeitsstunden die Fertigstellung des Gebäudes unterstützten. Die Nutzung der Bowlingbahnen war für die Bevölkerung geplant, denn sie waren mit Absicht etwas zu kurz projektiert, also nicht wettkampftauglich.
Als Sophia Kesting und Dana Lorenz den Bowlingtreff fotografierten, war er bereits mehr als fünfzehn Jahre geschlossen. Nach verschiedenen Nutzungsplänen hat der Stadtrat 2020 beschlossen, dass das Naturkundemuseum in das Gebäude einziehen soll. In Asphalt, Steine, Scherben besteht der Zwischenzustand des Gebäudes noch fort. Die Fotografien stellen die postmodernen Architekturelemente heraus, halten die Spuren der ursprünglichen Nutzung und von späteren ungebetenen Besucher:innen fest genauso wie ihre Veränderungen und den Verfall. Die Künstlerinnen blitzen auch hier das Vorgefundene an. Dadurch verändern sich die Konturen der Dinge, sie erscheinen artifiziell und es entstehen unnatürliche Schlagschatten. Die Architektur sieht ein wenig gespenstisch aus. In Fenstern und Wanddurchbrüchen öffnen sich schwarze, dystopisch wirkende Löcher. Weiße Kacheln erwecken einen klinischen Eindruck. Lüftungsschächte, Tellerstapel, Stützelemente und das Destilliergerät muten wie abstrakte, künstliche Objekte an. Die über Jahre angesammelte Patina auf den Wänden und Einrichtungsfragmenten rückt in ein besonderes Licht. Der Blitz einer Kamera leuchtet die dunklen Räume aus und hebt den Vordergrund vor dem Hintergrund hervor, friert Bewegungen in Sekundenbruchteilen ein. Im Fall des Bowlingtreffs sind dies die Bewegungen des Verfalls, der langsam und kaum merklich fortschreitet.
Mit ihrer Bildsprache knüpfen Sophia Kesting und Dana Lorenz an die fotografischen Experimente der späten 1980er Jahre an und übertragen so die damit verbundene Atmosphäre in die Gegenwart. In ihren Anschnitten und der Verdichtung des Beobachteten hallen die Fotografien von Maria Sewcz nach. Sie hatte 1987 mit der Werkgruppe inter esse eine seismografische Studie Ostberlins erstellt, in der sie mit einem besonderem Umgang mit Perspektive und Licht die Unmittelbarkeit ihrer Beobachtungen des urbanen Lebens unterstreicht. Die radikalen Kontraste, Brüche und Bildkombinationen von Porträts, Wildwuchs und urbanen Fragmenten in Asphalt, Steine, Scherben rufen darüber hinaus Michael Schmidts Waffenruhe in Erinnerung, der auf diese Weise die bleierne Stimmung und die Brüchigkeit der Gesellschaft Westberlins vor dem Mauerfall in Fotografien übersetzt hatte. Motivisch lässt sich eine Verbindung zu den Wartenden von Erasmus Schröter ziehen. Zwischen 1980 und 1985 hatte er mit einer Infrarot-Kamera Personen im nächtlichen Leipzig fotografiert und dazu 2009 geschrieben: „Als Grenzgänger zwischen Traum und Wirklichkeit bewegte ich mich durch die dunklen Nächte des Wartens.“ Auf was warten Sophia Kesting und Dana Lorenz bei ihrer fotografischen Erkundung? Und was erwarten wir von einem Ort wie dem Wilhelm-Leuschner-Platz?
Beim Blättern durch den Bilderstrom von Asphalt, Steine, Scherben fallen die vielen Hände in den Fotografien auf. Es sind zeigende Hände oder Hände, die etwas berühren, beispielsweise schwer einzuordnende Steine. Einige der Hände halten Flaschen, Kerzen, Plakate, Fahnen oder Scheinwerfer. Diese Gestik ist bedeutungsvoll und erinnert an wissenschaftliche oder technische Aufnahmen, deren Zweck sich für Außenstehende ohne Erklärung kaum ergründen lässt. Bei der Verschiebung solcher Bilder in den Kunstkontext entsteht eine besondere Spannung, denn die ursprüngliche Beweisführung führt ins Leere. Die Komplexität fotografierter Handlungen und wissenschaftlicher Gerätschaften wird augenscheinlich und die Bilder drängen förmlich danach, mit Bedeutung gefüllt zu werden. Mit ihrem Projekt Evidence (1975–1977) gehören Mike Mandel und Larry Sultan zu den ersten Künstlern, die mit dieser Spannung gearbeitet haben. Sie haben gefundene Fotografien aus Wissenschaft, Politik und Industrie neu miteinander kombiniert und dadurch wiederkehrende Gesten und typische Bildelemente herausgestellt. Anders als Mike Mandel und Larry Sultan haben Sophia Kesting und Dana Lorenz ihre Bilder selbst fotografiert. Beim gemeinsamen Fotografieren war manchmal die hinweisende Hand sichtbar und Handys gerieten in den Bildausschnitt, die für Testfotos dienten. In Asphalt, Steine, Scherben sind außerdem die fotografischen Arbeitsmittel der Künstlerinnen präsent. Zunächst hatten sie Fotostudiohintergründe auf dem Platz aufgestellt, um Fundstücke oder Personen aus ihrer Umgebung herauszulösen. Im Verlauf des Projekts setzten sie solche Zeugnisse des eigenen Arbeitsprozesses mit Absicht ins Bild, machen ihr Werkzeug sichtbar und stellen so ihre Rolle als visuelle Forscherinnen heraus. Die Künstlerinnen porträtieren sich gegenseitig bei der Vorbereitung der Aufnahmen oder beim Fotografieren mit ihren Apparaten, zwei Mamiya-7-Mittelformatkameras. Die Kameras bekommen in der Bildstrecke einen besonderen Auftritt. Auf einer Mauerkante steht eine Mamiya mit Extragriff, Aufsteckblitz und weiß leuchtendem Reflektorkarton. Auf einem der Bilder ragt eine Hand mit einem Mobiltelefon ins Bild und lässt die Kamera so skulpturenhaft fest und vertrauensvoll erscheinen, aber auch ein bisschen dinosaurierhaft. Die Kamera blickt mit ihrem Objektiv aus dem Bild heraus auf uns und erinnert an das Aufzeichnen und Fixieren einer Gegenwart, die uns einschließt.
„Fotografien machen es möglich, in die Vergangenheit zurückzukehren. Sie sind ein Korrektiv, sie schärfen den Blick auf das Vergangene und auf uns selbst“, steht auf einem Display, das sich 2018 im Rahmen des Leipziger Fotofestivals f/stop auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz befand. Die Installation Das Jahr 1990 freilegen enthielt Texte von Elske Rosenfeld, Christian Bochert und Jan Wenzel sowie Fotografien von Andreas Rost, die das Jahr nach dem Mauerfall und die Rolle der Fotografie als Dokumentationsmittel der Ereignisse befragten. Für Asphalt, Steine, Scherben haben Sophia Kesting und Dana Lorenz Fragmente der Installation aufgenommen und erweitern damit ihr Nachdenken über ihr Medium. Dem Blitz der Kamera kommt auch hier eine besondere Rolle zu, denn in der Reflexion des Blitzlichts zeichnen sich die nicht ganz ebenen Oberflächen der tapezierten Fotografien ab und damit auch die Enden des historischen Bildraums. Fotografien sind in ihrer Tiefe genauso begrenzt wie an den Rändern. Beim Betrachten können wir nur bis zu einem bestimmten Punkt in sie hineinsehen, weil der Rahmen der fotografischen Bilder die Vergangenheit in Rechtecke zerschneidet und die Erinnerung filtert. In den Tiefen der Bilddetails beginnt irgendwann das Rauschen des Filmmaterials, danach ist nichts mehr erkennbar. Sophia Kesting und Dana Lorenz erkunden mit Asphalt, Steine, Scherben mit gegenwärtigen Fotografien die Vergangenheit und ihre weitere Fortschreibung, statt auf historische Fotografien zurückzugreifen. Nach einer möglichen Zukunft mit einem Medium zu forschen, das so verbunden mit einem konkreten Aufnahmezeitpunkt ist, erscheint paradox, noch dazu auf einem Platz, auf dem weitgehender Stillstand herrscht.
Im Zusammenspiel der Fotografien, ihrem Gegenüber auf den Doppelseiten und in der Dramaturgie der Bildstrecke setzen sich die Beobachtungen und Fragen von Sophia Kesting und Dana Lorenz zusammen wie ein Mosaik mit eigener Logik. In der Abfolge der Bilder haben die Künstlerinnen Verweise auf unterschiedliche Zeitlichkeiten miteinander verwoben. Sie setzen Spuren der Vergangenheit und der beobachteten Gegenwart nebeneinander, um eine bereits angelegte Zukunft aufzuspüren. Sie arbeiten sich nicht chronologisch an den vergangenen Ereignissen ab, sortieren ihre Bilder auch nicht nach Aufnahmezeitpunkt, sondern bringen ihre fotografischen Beobachtungen miteinander ins Gespräch, erzeugen Reibung, Spannung und lösen so zeitliche Kontinuitäten auf. Genauso verfahren die Künstlerinnen mit der räumlichen Verortung des Fotografierten. Beim Durchblättern verschwimmen die Raumachsen, Ebenerdiges und Unterirdisches, Innen und Außen. An manchen Stellen verdichten sich Bilder zu Themen wie Protest und Befragungen der Architektur. Andere Themen kündigen sich mit ein, zwei Bildern an und werden erst später auserzählt oder genau andersherum, wenn ein Einzelbild so etwas wie eine spätere Ergänzung wieder aufgreift. Beispielsweise verweist früh im Buch eine Kerze mit Windschutz auf Demonstrationen und gegen Ende knüpft eine düstere nächtliche Stimmung an die dunkle Atmosphäre des Intros an. Wie strukturierende Satzzeichen haben Sophia Kesting und Dana Lorenz regelmäßig Fragmente der Gegenwart zwischen die thematischen Verdichtungen gestreut: hinterlassene Botschaften und Kommentare von Passanten, Personenansammlungen, Zwischennutzungen, Anzeichen der beginnenden Baustelle für die Neubebauung und die von ihrer eigenen Gegenwart zeugende fotografische Ausstattung. Beschreiben ließen sich diese Bilderplatzierungen auch als wiederkehrende Echos, die einen eigenen Raum und Nachhall erzeugen.
Ein besonderes Motiv entstand, als Sophia Kesting und Dana Lorenz ihre Kameras wiederholt auf den Boden richteten, als würden sie den Platz fotografisch vermessen wollen. Ausnahmsweise haben die Künstlerinnen dafür einem Farbfilm verwendet. Auf den Bildern sieht der Asphaltboden aus wie ein überspülter Sandstrand, in dem kleine Steine und schillernde Scherben hängen geblieben sind und wo das zurückfließende Wasser mit Vertiefungen Spuren hinterlässt, die mit der nächsten Welle weggespült werden. Die Vertiefungen sind in Wirklichkeit Narben der Ereignisse, deren Spuren von dem Platz über Jahrzehnte einverleibt wurden. Sie repräsentieren die Überreste der Vergangenheit, die noch nicht überbaut wurden und noch zur Betrachtung frei liegen. Bevor etwas Neues entsteht, können wir mit diesen Momentaufnahmen innehalten und mit dem Wissen um die Vergangenheit selbst über eine Zukunft spekulieren.
1. Die Bild-Zeitung spekuliert, dass es sich um den letzten Prellstein der historischen Markthalle handeln könnte: https://www.bild.de/regional/leipzig/leipzig-news/leipzig-entdeckt-der-letzte-stein-der-alten-markthalle-78964500.bild.html [zuletzt aufgerufen am 30.5.2024]. Die Kacheln sind vermutlich Bodenfliesen, die sich ursprünglich auch in der Markthalle befunden haben.
2. So berichtete es Sebastian Lentz vom Leibnitz-Institut für Länderkunde bei einer Führung für die Galerie für Zeitgenössische Kunst und am 26. April 2024.
3. Vgl. Urs Stahel, Fotomuseum Winterthur (Hg.): Joachim Brohm. Areal, Göttingen 2002.
4. Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat, Berlin 2024, S. 95.
5. Vgl. Christoph Kaufmann: Mit Volldampf durch die Stadt. Die Leipziger Trümmerbahnen 1944–1956, Leipzig 2006.
6. Die Aufnahmen befinden sich im Nachlass von Johannes Widmann im Stadtgeschichtlichen Museum, Leipzig: https://www.stadtmuseum.leipzig.de/ete?action=query&desc=wilhelm+leuschner+platz+johannes+widmann&refine=Suchen [zuletzt aufgerufen am 30.5.2024].
7. Hella Gormsen: Vom lebendigen Geschäftsviertel über Kriegsbrache zum „Juwel“? Teil 2: Rund um die Markthalle, Vortrag am 4. Juni 2024 in der Kirche St. Trinitatis in Leipzig.
8. Der Abriss der zerstörten Gebäude zog sich bis Ende der 1950er Jahre hin. Die teilweise zerstörte Markhalle etwa wurde erst 1959 abgerissen und bis dahin sogar noch genutzt.
9. Zur Geschichte des Platzes siehe u. a. Brunhilde Rothbauer: „Esplanade. Königsplatz. Wilhelm-Leuschner-Platz. Zu Vergangenheit und Zukunft eines Leipziger Stadtraums“, in: Leipziger Blätter, H. 38, Leipzig 2001, S. 52−55.
10. Vgl. Jens Rometsch: „Grün und Lebendig“, in: Leipziger Volkszeitung, 17.6.2024, S. 11.
11. Vgl. u. a.: https://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/stadtgeschichte/historisches-aus-1000-jahren/beat-demo-leuschnerplatz-am-31101965 [zuletzt aufgerufen am 30.5.2024].
12. Diese Raves sind kaum öffentlich bekannt, ein Augenzeugenbericht findet sich im Internet: https://www.rave-strikes-back.de/?page_id=925 [zuletzt aufgerufen am 30.5.2024].
13. So berichtete es Matthias Hoch, der einer dieser Studierenden war, auf der Tagung Long Time, No See. Fotografie in und aus Ostdeutschland der DGPh am 10.12.2022 in der Kunsthochschule Weissensee in Berlin.
14. Entworfen hat ihn der Leipziger Architekt Winfried Sziegoleit, der zuvor auch am Gewandhaus beteiligt war.
15. Die Geschichte des Gebäudes dokumentiert der Film Bowlingtreff (2015) von Adrian Dorschner und Thomas Beyery.
16. Inka Schube, Sprengel Museum Hannover (Hg.): Maria Sewcz. inter esse, Göttingen 2013.
17. Michael Schmidt: Waffenruhe, Berlin 1987.
18. Kunsthalle Erfurt (Hg.): Die andere Leipziger Schule. Fotografie in der DDR, Bielefeld 2009, S. 152.
19. Vgl. Anne König und Jan Wenzel (Hg.).: Zerrissene Gesellschaft. Remontagen der Zeit, Katalog zum 8. Festival für Fotografie f/stop Leipzig, Leipzig 2018, o. S.
Bei ihrer Recherche in dem FOTOHOF archiv stieß Sophia Kesting auf eine Diasammlung, die schon länger niemand mehr für beachtenswert gehalten hatte. Die Künstlerin war eingeladen, sich mit dem Archiv zu beschäftigen und in Reaktion auf dieses eine neue Arbeit zu entwickeln. Bei einem Rundgang mit Kurt Kaindl, der Gründungsmitglied und bis heute Teil des Teams ist, durch die Räume des FOTOHOF fielen ihr zahlreiche Diakästen auf. Auf Nachfrage berichtete ihr Kurt Kaindl von der Nutzung der Dias für seinen Unterricht und öffnete Sophia Kesting so einen Blick in die Randgebiete des FOTOHOF archiv. Die Beschäftigung mit diesen mehr oder weniger vergessenen Dias löste bei Sophia Kesting ein grundlegendes und medienreflexives Nachdenken über Fotografie aus.
Seit der Gründung des FOTOHOF 1981 bietet das Team Kurse über das Medium Fotografie an. In seinen Fotokursen nutzte Kurt Kaindl in den 1980er und 1990er Jahren eine Diasammlung mit rund 5000 Dias und mehrere Ringordnern, auf die Sophia Kesting nun zugreift. Dieses Lehrmaterial zur Erläuterung der technischen und gestalterischen Funktionsweisen des Mediums stammt aus verschiedenen Quellen: Ein Teil kam von Fotofirmen, wie den von Kodak in den 1980ern auf Bestellung versandten Lehrbehelf für Fotografie mit Dias und Erklärungen sowie die Nikon Fotoschule von 1981. Viele weitere Bilder hatte er aus Magazinen, Zeitungen und Künstler*innenbüchern reproduziert und Fotografien aus seinem eigenen Werk hinzugefügt.
Im Gegensatz zu Fotografien, die als Kunstwerke eingestuft werden oder die dokumentarischen Charakter haben, erfolgt bei solchen Lehrbildern eine besondere Form der Alterung. Sie gelangen in der Regel gar nicht oder nicht gleichwertig in Sammlungskataloge. Irgendwann werden sie obsolet, weil die verwendeten Kameras längst überholt sind, weil die Aufnahme motivisch oder das Vermittlungsmedium technisch veraltet ist. Ähnlich wie bei Bildern aus der Wissenschaft führt die Einstufung als unzeitgemäß meist dazu, dass die Lehrbilder entsorgt werden oder in hintere Ecken von Archiven gelangen und dort in Vergessenheit geraten. Ab diesem Moment ist der ursprünglich angedachte Erkenntnisgewinn der fotografischen Bilder verschwunden. Sie erzählen dennoch einiges über die Bedingungen ihrer Herstellung und den damit verbundenen normativen Vorstellungen, die nebenbei in die Lehrveranstaltungen Eingang finden. Genau an dieser Stelle setzt Sophia Kestings Projekt Rewriting the Photographic Image an.
An dem Lehrmaterial Kurt Kaindls interessieren Sophia Kesting weniger die technischen Informationen. Sie richtet stattdessen ihren Blick darauf, wie das fotografische Wissen vermittelt wird. Dabei machte sie eine Beobachtung, die ihr in ihrer Arbeit mit dem Medium regelmäßig begegnet ist: In Kurt Kaindls Bildauswahl ebenso wie in anderen Lehrbüchern prägen bis in die 2000er Jahre Männer aktiv die Abbildungen zur Bildgestaltung und -herstellung, Frauen sind hingegen häufig passiv. Inzwischen hat sich diese Geschlechteraufteilung zwar verschoben, die fotografierten und fotografierenden Personen sind jedoch weiterhin in der Regel weiß, binär, jung und gutaussehend. In den gefundenen Lehrdias von Kurt Kaindl erfolgt die geschlechtsspezifische Aufteilung themenbezogen. In den Kapiteln zum Porträt werden Gesichter von Frauen oder nackte Frauenkörper ausgeleuchtet und mit Aufhellern moduliert. Bei der Erläuterung des fotografischen Akts und der Entwicklung von Fotografien sind Männer die bestimmenden Protagonisten hinter der Kamera, im Fotostudio oder in der Dunkelkammer. Wie kann man mit so einem fotografischen Material künstlerisch umgehen, ohne polemisch zu werden? In welcher Form ist eine kritische und zugleich produktive Medienreflexion möglich?
Für Rewriting the Photographic Image entscheidet sich Sophia Kesting zunächst für Ausbreiten und Hantieren mit dem gefundenen Material. Sie befreit die Frauengesichter von den ausführlichen technischen Beschreibungen und belässt lediglich knappe Hinweise zur Ausleuchtung als Bildunterschriften. Nicht mehr eingezwängt in ein dichtes Textgerüst wirken die Gesichter weniger wie reine Oberflächen. Mit der Zugabe von Weißraum treten vielmehr die subjektiven Züge der Frauen hervor. [S. 13,19] In einer anderen Bildgruppe hantiert Sophia Kesting wortwörtlich mit den verschiedenen Aufnahmen eines Frauengesichts aus der Nikon Fotoschule. Diese Geste verschiebt unsere Wahrnehmung wirkungsvoll: Nicht die fotografierte Frau erscheint als Objekt im Bild, sondern das Bild selbst, das hier als Abzug in materieller Form sichtbar ist. Sophia Kesting betont zudem den Akt des Betrachtens, indem sie die Porträtaufnahmen so vor ihre Kamera hält, dass wir sie gut anschauen können. Und sie ist es selbst, die die Bilder in der Hand hält – als Künstlerin, Fotografin, Betrachterin und vermutlich ähnlich alte Frau wie die, die hier ausgeleuchtet wurde. [S. 37–44]
Wie in vielen Lehrbüchern ist der Blick hinter die Kulissen auch ein wichtiger Bestandteil von Kurt Kaindls Unterrichtsmaterial, um den Ablauf der Bildproduktion zu erläutern. Die notwendigen technischen Prozesse werden dazu in Einzelbilder zerlegt. Diese visuellen Erläuterungen greift Sophia Kesting mit Reenactments auf und ersetzt die Männer hinter der Kamera, in der Dunkelkammer, im Fotostudio und im Atelier durch sich selbst. Sie übernimmt als Frau nicht einfach den Platz der Männer, sie befragt darüber hinaus die gängigen Repräsentationen der fotografischen Tätigkeit in den vorgefundenen Bildern. Dazu eignet sich Sophia Kesting zunächst mit eigenen Posen die visuelle Darstellung der Entwicklung der künstlerischen Produktion aus dem Lehrbehelf für Fotografie von Kodak an. [S. 53–57] Die Originalbilder verkürzen die Entwicklung in gezeichneten Illustrationen auf einen Höhlenmaler, einen Bildhauer, einen Maler und einen Fotograf. Für ihre Reenactments tritt Sophia Kesting in einen Austausch mit anderen Künstler*innen, positioniert sich vor deren Werken oder nutzt deren Arbeitsmittel für ihre Darstellung der verschiedenen Künste. Dabei ist sie jeweils in einer Rückenansicht zu sehen und steht so stellvertretend für viele Frauen, die einer künstlerischen Tätigkeit nachgehen. Eine Ausnahme und gleichzeitig den Schlusspunkt der Reihe zur Entwicklung der künstlerischen Produktion bildet eine Aufnahme mit einem Fotoapparat. Hier ist Sophia Kesting von vorn und ohne künstlerisches Erzeugnis, aber mit einer vor das Gesicht gehaltenen Kamera zu sehen. Nebenbei erfahren wir auf diese Weise, in welchem Format und wie die Künstlerin ihre Bilder aufnimmt. Die von ihr genutzte Kleinbild-Spiegelreflexkamera Nikon F90X, eine sogenannte handheld camera, erlaubt ein freies, nicht zwingend statisches Fotografieren. Die Kamera ist analog und spricht im Gegensatz zur digitalen Fotografie für ein Interesse an weniger und dafür konzentrierteren Aufnahmen, für die Vorliebe der analogen Bildcharakteristik und häufig für die Arbeit mit den eigenen Fotografien in der Dunkelkammer.
Mit weiteren Bildern buchstabiert Sophia Kesting die Repräsentation der Fotografie weiter aus: Ein Bildpaar macht das Fotografieren als Tätigkeit und das dazugehörige, fertige Motiv sichtbar und lädt dazu ein, wie bei einem Rätselbild Vergleiche zwischen beiden zu ziehen. [S. 58-59] Eine dreiteilige Bildgruppe steht für einen wichtigen Aspekt des Aufnahmeprozesses: die Messung des vorhandenen Lichts mit einem Belichtungsmesser. Mit der Lichtmessung fällt die Entscheidung, welche Stellen im Bild hell und welche dunkel erscheinen und damit auch welche Bildelemente hervorgehoben werden und welche zurücktreten. Den eigentlichen Zweck solcher Bilder – zu erläutern, wie man das Messgerät richtig hält und was darauf abzulesen ist – erweitert Sophia Kesting eindrücklich. Den Belichtungsmesser hält eine Kinderhand, eine Erwachsenenhand und eine ältere Hand. Genau genommen sind das ihre Tochter, ihre Mutter und Sophia Kesting selbst. Die drei haben ganz sicher unterschiedliche Vorstellungen in Hinblick auf die Bildgestaltung mit Licht, schon allein aufgrund ihrer Sehgewohnheiten und Körpergröße. [S. 63–65]
Weitere Fotografien des Projekts führen uns in fotografische Arbeitsräume. [S. 67, 69] In einem Fotostudio positioniert sich Kesting vor einer Camera Obscura und in der Dunkelkammer hantiert sie im Laborkittel mit Fotochemie. Die Künstlerin bedient damit das Genre des Berufsporträts, bei dem in vielen Berufsgruppen meist männliche Protagonisten im Mittelpunkt stehen, nicht nur in der Fotografie. Solche Aufnahmen von Personen bei einem eigentlich unsichtbaren Teil ihrer Arbeit sehen meist seltsam künstlich aus. Die arbeitende Person friert für den Moment des Fotografierens in einer Bewegung ein und doch transportiert sich in dieser Art von Bildern etwas ganz entscheidendes: Wer bestimmt den Arbeitsprozess und wie ist das Verhältnis zur Arbeitsumgebung. Sophias Kestings Reenactments verdeutlichen, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob Frauen oder Männer im Labor arbeiten, oder anders formuliert, Frauen können und sollten die Bild-Entstehungsprozesse genauso steuern und repräsentieren.
Tritt man bei der Betrachtung von Rewriting the Photographic Image einen Schritt zurück und richtet die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Tatsache, dass sich hier eine Frau den fotografischen Prozess aneignet, zeigen sich weitere Aspekte, die diese Arbeit in ihrer Medienreflexivität auszeichnen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Lehrarchiv hat Sophia Kesting die Frage der Autor*innenschaft beschäftigt, denn der Begriff ist in ihrem Projekt komplex. Einerseits, da es sich um eine Arbeit mit gefundenen Fotografien handelt, die jemand als Lehrmaterialien erstellt und die Kurt Kaindl für seinen Unterricht ausgewählt hat. In diesem befindet sich eine bunte Mischung an nicht benannten Bildautor*innen, die Kurt Kaindl für seinen Unterricht ohne Beachtung des ursprünglichen Kontexts sorglos ausgewählt und reproduziert hatte. Andererseits benötigt die Künstlerin bei den Motiven, wo sie selbst als Person im Bild auftritt, eine weitere Person, die fotografiert. In Anlehnung an die gefundenen Fotografien aus dem Lehrarchiv bestimmt Kesting zwar den Bildaufbau maßgeblich, die zusätzlichen Bildautor*innen bringen sich dennoch subtil mit eigenen Ideen in das geplante Setting ein. Und nicht zuletzt verdeutlichen die drei Personen mit dem Belichtungsmesser, dass die Bildautor*innen Menschen mit ganz unterschiedliche Ideen sein können.
Neben dem Verständnis von Autor*innenschaft ist mit Sophia Kestings Projekt die Frage nach der öffentlichen Sichtbarkeit von Archivmaterial verbunden, das nicht in die Kategorie Kunstwerk passt. Im Bestand des FOTOHOF archiv, der in großen Teilen online einsehbar ist, befindet sich mit der Werkgruppe der Musterbilder von Hans Rustler bisher ein Konvolut das als Lehrmaterial verstanden werden kann. Es handelt sich um Testbilder, die im Rahmen einer Abschlussarbeit an der Agfa Photoschule Berlin entstanden sind. Die Bilder deklinieren die technischen Möglichkeiten beim Herstellen von Fotoabzügen durch und wurden 1931 in der Mustermappe aus der Agfa Photoschule veröffentlicht. Im Zuge der Ausstellung und Publikation von Sophia Kesting wird nun erstmals ein Teil der Bilder aus Kurt Kaindls Diasammlung öffentlich zu sehen sein. Die Künstlerin antwortet so auf die Einladung des FOTOHOF – die Sammlung zu befragen und in Bewegung zu versetzen, mit der Aufforderung, den Blick auf das Archiv zu erweitern und zu überdenken, welche Bildtypen und Bildautor*innen unseren Blick auf die Fotografie prägen.
Der Text von Christin Müller erscheint im Künstlerinnenbuch "Rewriting the Photographic Image", Sophia Kesting, 2022, FOTOHOF edition: Band 348, ISBN 978-3-903334-48-9
Der Wilhelm-Leuschner-Platz, ungefähr sechs Hektar groß, ist seit Jahrzehnten die größte innerstädtische Brache. Als Sophia Kesting und Dana Lorenz 2012 mit ihrer gemeinsamen künstlerischen Dokumentation des Platzes begannen, studierten sie Fotografie bei Joachim Brohm an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Längst schlossen sie Studium ab und jede widmet sich eigenen Projekten. Der Wilhelm-Leuschner-Platz als gemeinsames Beobachtungsfeld ist allerdings geblieben. Ursprünglich wollten Kesting und Lorenz die Umgestaltung zum Platz der Friedlichen Revolution samt Freiheits- und Einheitsdenkmal begleiten. Passiert ist seit dem einiges. Der Citytunnel wurde gebaut, die Pläne für das Einheitsdenkmal begraben, Bebauungen skizziert und diskutiert, noch aber liegt der Platz so da wie vor Jahrzehnten auch. Von temporären Nutzungen abgesehen, eroberte die Natur den asphaltierten Ort. Der 1997 geschlossene Bowlingtreff harrt tapfer aus und wartet nun auf sein neues Leben als Naturkundemuseum.
Der Platz stellt eine Bühne für unterschiedliche Interessen und Nutzungsoptionen dar. Die Fotografinnen begleiten diesen undefinierten Ort nun seit fast einem Jahrzehnt mit analoger Aufnahmetechnik per Mittelformatkameras. Dabei geht es nicht um eine mikroskopische Wiedergabe des Platzes, sondern der Platz ist auch für sie ein künstlerisches Experimentierfeld zwischen Gestern, Heute und Morgen. In ihren Inszenierungen bezogen sie sich beispielsweise auf Leipziger Fotografen wie Erasmus Schröter und verwendeten ebenso starke Blitze bei der Aufnahme. Sehr kontrastreiche Aufnahmen zeigen temporäre Eroberungen wie auch inszenierte Anordnungen von Menschen oder aktuelles Demonstrationsgeschehen auf dem Platz.
Anlässlich des 9. F/Stop-Festivals bildet die Ausstellung »Asphalt, Steine, Scherben« in der ODP Galerie einen Satelliten. Hier ist eine Zweikanalprojektion an gegenüberliegenden Wänden zu sehen, die Aufnahmen des Wilhelm-Leuschner-Platzes von 2012 bis 2021 kombiniert. Die Aufnahmen erzählen von Gesellschaft und Geschichte und führen durch die Choreographie zu einer neuen Korrespondenz der Bilder.
Ein Ende der Dokumentation ist derzeit noch nicht in Sicht. Erst wenn wirklich Baugruben ausgehoben werden und die Brache verschwindet, endet ihre Dokumentation. Das kann noch einige Zeit dauern. BRITT SCHLEHAHN
»Asphalt, Steine, Scherben«, bis 18.7., ODP Galerie
www.asphaltsteinescherben.de
"WHITE CITY — BLACK CITY"
Stefanie Milling in "Moderne, Fotografie, Ikonografie", E.A. Seemann Verlag, 2019
Zwischen etwa 1930 und 1950 entstanden im noch jungen Tel Aviv rund 4000 Bauten im Bauhaus- und Internationalen Stil. Einwanderer aus Europa, vor allem aus Nazi-Deutschland geflüchtete Juden, brachten die Bauweise mit. Die Stadtplanung des Schotten Patrick Geddes ließ Platz für ihre Umsetzung, so dass Tel Aviv bis heute weltweit die meisten Bauwerke in diesem Stil versammelt. Etwa 1000 Gebäude der sogenannten Weißen Stadt sind seit 2003 Teil des UNESCO-Welterbes.
Sophia Kesting begibt sich mit ihrem Projekt auf die Spur dieser Bauten. Mehrfach fotografierte sie in Tel Aviv, beschränkte sich dabei aber nicht auf die unter Denkmalschutz stehenden Häuser, die nur einen kleinen Teil des Moderne-Bestandes der Stadt ausmachen. In Anlehnung an die 1000 UNESCO-Denkmäler erarbeitet sie vielmehr einen anderen, subjektiven Denkmalkatalog, ergänzt auch um zeitgenössische Bauten, die Merkmale des Internationalen Stils aufgreifen. Kestings rund 1000 Fotografien zeigen Häuser aus verschiedenen Teilen der Stadt, aus dem Zentrum wie aus Vierteln an der Peripherie, die heute von Migrant*innen aus Afrika geprägt sind, ähnlich wie die Weiße Stadt um die Mitte des 20. Jahrhunderts von Migrant*innen aus Europa geprägt war.
In jeder Aufnahme steht ein einzelnes Gebäude im Zentrum. Details aus dem Stadtleben wie parkende Autos und Passanten liefern eine subtile Einordnung des Motivs, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Die Häuser erscheinen so als Solitäre, eingebettet mehr in soziale Zusammenhänge als in einen städtebaulichen Kontext. Kesting verschiebt damit den Blick vom großen Ganzen der Stadtplanung hin zur Vielzahl einzelner Gebäude, die zusammen die Stadt ausmachen. Der Blick weitet sich, über die streng geregelte Denkmalbürokratie hinaus, auf die ständige Veränderung und Entwicklung des architektonischen Erbes in Tel Aviv.
Jedes Motiv findet sich, als Plakat auf einem von drei Stapeln, in der Ausstellung. Besucher*innen können sich eines mitnehmen und generieren so im Verlauf der Ausstellung immer wieder neue Motivkombinationen, mit denen die Diversität der Gebäude in den Ausstellungsraum geholt wird. Im Laufe der Zeit verschwindet Kestings White City schließlich aus dem öffentlichen Raum des Museums und wird Teil des privaten Raums der Ausstellungsbesucher*innen.
"Moderne. Ikonografie. Fototgrafie. Das Bauhaus und die Folgen 1919 - 2019"
21.09.2019 - 9.02.2020
Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg
"Wachstum ohne Ausdehnung"
Maren Lübbke-Tidow über "KORRELAT", Sophia Kesting, 2017 – 2018, in "GENAU DA" Innsbruck, Sieben erste Begegnungen", FOTOHOFedition, 2018
Sophia Kesting arbeitet mit ihren Fotografien und den Formen ihrer Ausarbeitung konsequent gegen ein bildnerisches Ideal – also gegen jene idealtypischen Aufnahmen, denen wir aber so oft begegnen, wenn es darum geht, Architekturen oder städtische Strukturen aufzuzeichnen und irgendwo (in einer Ausstellung, in einem Buch, in einer Broschüre) möglichst störungsfrei in gutem Licht zu zeigen. Kestings Projekt aber ist ein anderes ist, denn hier wird unmittelbar klar: In einem Raum kommt immer mehr zusammen als das, was (konventionelle) Architekturfotografen (und ihre Auftraggeber) sich erträumen. Denn dieser Raum ist durch seine Nachbarschaften und Nutzungen ganz einfach vielfach überschrieben mit Informationen, die auf den Planzeichnnugen der Architekten nicht vorgesehen sind.
Untersuchungsgebiet von Kestings fotografischer Recherche ist der Frachten- und Hauptbahnhof der Tiroler Landeshauptstadt, ein Gebiet, dass stark durch das Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungen geprägt ist: Gartengrundstücke, so wie sie oftmals in der unmittelbaren Nähe von Bahntrassen aufzufinden sind, werden abgelöst von Brachen und / oder angrenzenden Wohnbauten. Genauso haben sich hier – geostrategisch günstig gelegen – lokale und globale Formen und Unternehmen niedergelassen, um einen möglichst reibungslosen Transfer von Gütern und Waren zu gewährleisten. Die unterschiedlichen Bedarfe in diesem gewachsenen Areal sind also manifest, und es steht zu befürchten, dass dieses Nebeneinander von Ungleichem zukünftig einem weiträumigen Flächennutzungsplan wird weichen müssen, um die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Innsbrucks auch weiterhin und mit globaler Perspektive fortschreiben zu können. Das Gebiet befindet sich also im Umbruch.
Sophia Kesting greift die unterschiedlichen Nutzerinteressen auf und stellt sie ineinander. Aber klar ist auch: In diesem Gebiet kann es vorn vornherein auch gar nicht gelingen, zu einer Übersicht gebenden Darstellung zu kommen. Zu viele Perspektiven auf den Raum überschneiden sich. Die Sicht ist verstellt – konsequent ragt immer wieder etwas mit ins Bild, was einer störungsfreien Wiedergabe eines der vielen unterschiedlichen baulichen Ensembles entgegensteht. Diesen Umstand und Seheindruck greift die Künstlerin auf und spitzt ihn zu: Denn sie entschließt sich dazu, Bildhierarchien aufzugeben und im Gegenteil Vorder- und Hintergrund in extremen Perspektiven miteinander verschmelzen zu lassen. Raum zwischen den Architekturen ist als bildstrukturierender Moment genauso wenig in Sicht wie ein Stück Himmel, denn wie wir wissen, ist Innsbruck von Bergen umgeben, deren Wiedergabe als bildlicher Abschluss die Szenen insgesamt noch mehr einschließen.
Mit ihren Bildern macht die Künstlerin Momente der extremen baulichen Verdichtung mehr als deutlich. Durch das Zusammenschneiden ihrer Bilder (ohne Weißraum) zu einem Leporello sowie durch die Produktion einer Schallplatte mit dem Musiker Andreas Trenkwalder, der sich mit diesem Gebiet und seinen Geräuschen in seinen Kompositionen auseinandersetzt hat und die in der Ausstellung anzuhören möglich sein wird, gelingt es Künstlerin darüber hinaus, diesen Eindruck einer verdichteten "Erfahrung ohne Ausweichmöglichkeiten" (Kesting) zu verstärken. In der Ausstellung wird Sophia Kesting ihre Arbeit nicht nur als kleinformatigen Leporello zusammen mit der Schallplatte auslegen, sondern Ausschnitte aus ihrem Bildwerk in Form einer Fototapete an die Wand bringen. Das gewaltige Ensemble aus fragmentierten städtebaulichen Ansichten, untermal durch entsprechende Musik, steht dabei ganz eindeutig in Kontrast zu der homogenen Stadtstruktur, als die sich Innsbruck aber auf den ersten Blick zeigt. Mit Sophia Kestings (und Trenkwalders) Arbeit aber wird greifbar, dass der Preis jeder in ihren Oberflächen noch so glatt erscheinenden Stadt in Zonen abseits der ausgetretenen Pfade aufzufinden ist: in jenen, die aufgrund politischer und wirtschaftlicher Interessen Transformationsprozessen unterworfen sind.
Der Text von Maren Lübbke-Tidow erscheint anlässlich des Kataloges zur Ausstellung:
„Genau da!“, Kunstraum FO.KU.S, BTV Stadtforum Innsbruck, 2.10 .2018– 4.1.2019
Monumental erhebt sich die teilweise schon brüchige Glasfassade eines postmodern anmutenden Gebäudes im Bild. Schräg angeschnitten, steht es als monolithischer Block da, dessen Äußeres die Wolken am Himmel widerspiegelt, ohne jedoch einen Hinweis auf eine konkrete räumliche Verortung zu geben. Andere Aufnahmen aus der Serie Asphalt, Steine, Scherben von Sophia Kesting und Dana Lorenz lassen aufgrund der stilistischen Nähe der architektonischen Details darauf schließen, dass dasselbe Gebäude auch fotografisch von innen erschlossen wurde: Der Lichteinfall durch ein Glasdach, die Einfassung eines Durchgangs mit den gleichen quaderförmigen Blöcken aus Sandstein oder etwa die achtteiligen Wandnischen, welche die oktogonale Form des Gebäudes aufgreifen, korrespondieren mit dem Äußeren auf mehreren Ebenen. Für die Leipzigerinnen und Leipziger ist dieses Gebäude kein unbekanntes. Es handelt sich um die 1987 fertiggestellte Bowlinganlage am Wilhelm-Leuschner-Platz, die nach Plänen von dem auch für das benachbarte zweite Gewandhaus verantwortlichen Architekten Winfried Sziegoleit erbaut wurde und den Unterbau des in den 1920er Jahren entstandenen Umspannwerks integrierte. Seit 1998 geschlossen, ist eine Renovierung und neue Nutzung derzeit ausständig. Die Bowlingbahn symbolisiert damit im Kleinen das Provisorium des Wilhelm-Leuschner-Platzes als Ganzes, der als größte Innenstadtbrache Leipzigs noch immer einer einheitlichen architektonischen Gestaltung harrt. Der im 19. Jahrhundert als Königsplatz bekannte Ort wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert umgestaltet und zeichnete sich danach durch Ausstellungsgebäude, eine Markthalle sowie Hotels und Warenhäuser aus. Der unmittelbar am Ring gelegene Platz wurde im Zweiten Weltkrieg größtenteils zerstört und bis heute nicht erneuert.(1) Im besten Sinne des Artistic Research machen es sich Kesting und Lorenz seit 2012 zur Aufgabe, den Platz künstlerisch zu umkreisen und zu beforschen. Als wesentlicher Referenzrahmen dafür dient ihnen sowohl die Geschichte des Platzes, insbesondere in Hinblick auf die DDR-Zeit, als auch das Bewusstsein über den in Schwebe befindlichen gegenwärtigen Zustand. Als Vertreterinnen der Nachwende-Generation, wie sie sich selbst bezeichnen (2), sind sie einerseits nie direkt mit der problematischen Historie konfrontiert gewesen, weisen aber genug Wissen und Sensibilität auf, um reflektiert und sorgsam mit dem Erbe umzugehen. Wichtigstes Mittel ihrer künstlerischen Herangehensweise sind ihnen dabei verschiedene Strategien der Aneignung. Konzepte der Aneignung sind in den letzten Jahren in der Kunst zu einem wichtigen Thema geworden, vorbereitet durch eine Auseinandersetzung mit Aneignungspraktiken im Alltagsleben innerhalb der Kulturwissenschaften.(3) Im Folgenden sollen drei wesentliche Ebenen der künstlerischen Aneignung, die für die Serie Asphalt, Steine, Scherben grundlegend sind, herausgearbeitet werden. Aneignung findet zunächst in Bezug auf den konkreten Ort als Raumaneignung statt. Zweitens werden Mittel der performativen Körperinszenierung gewählt, um sich den geschichtlichen und zeitgenössischen Gehalt über Personen anzueignen. Und schließlich tritt Aneignung zusätzlich auf einer medialen Ebene auf, indem eine bestimmte fotografische Technik, die sich durch einen historischen Bezug auszeichnet, für die Aufnahmen angewandt wird. All diese Strategien der Aneignung greifen auf komplexe Weise ineinander und eröffnen einen Denk-Raum, der über Bilder funktioniert.
Der Wilhelm-Leuschner-Platz ist wie viele andere Bereiche in der Innenstadt Leipzigs einer jener Orte, in die sich Geschichte eingeschrieben hat. Verschiedene Zeitebenen treffen hier aufeinander: Das Spektrum reicht vom Gebäude der heutigen Stadtbibliothek, das ursprünglich als Museum für Kunsthandwerk in den 1890er-Jahren erbaut wurde, über die Bedeutung des Platzes während des SED-Regimes, als die Montagsdemonstrationszüge daran tangential vorbeiführten bis hin zur aktuellen Diskussion um die zukünftige Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals. Seit kurzem beherbergt der Platz einen Zugang zum prestigeträchtigen S-Bahnprojekt durch die Leipziger Innenstadt und die mittlerweile fertig gestellte Propsteikirche. Kesting und Lorenz sind sich allzu bewusst, dass jede fotografische Intervention nur eine temporäre Bestandsaufnahme sein kann. Sie nutzen das Vorläufige und Prozesshafte dieses Nicht-Ortes (4), um einen eigenen utopischen Raum zu entwerfen. Ist die Utopie mit ihrer visionären Qualität stets in die Zukunft gerichtet, wird jedoch gleichzeitig das Augenmerk auf den Gehalt des Vergangenen gelegt. Fast alle Fotografien können im Sinne einer Spurensicherung gelesen werden. Sie sind reich an Hinweisen und Einschreibungen von dem, was einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen ist: Graffiti, heruntergestürzte Skulpturen, ein einsamer abgestellter Kastenwagen, Spuren im Schnee oder Relikte temporärer Aktivitäten – diese Dinge sind, wie die Fotografie allgemein, Indizien von etwas einmal Da-Gewesenen.(5) Aleida Assmann betont in ihrem Beitrag „Geschichte findet Stadt“, dass nicht nur die bekannten Orte der nationalen Gedenk- und Erinnerungsarbeit für die Spurensicherung wichtig sind, sondern ebenso die Nicht-Orte. Sie weist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen Raum und Ort hin: Während Raum den Vorgang des architektonischen Planens und Bauens bezeichnet, sind Orte „demgegenüber dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt bzw. etwas erlebt und erlitten wurde“(6). Daher zeugt der neue Raumdiskurs nicht nur von einem Bewusstsein „für Raum als ein zentrales Dispositiv der Macht, der Repräsentation, der Gestaltung, sondern auch für Orte in ihrer Konkretheit und Unverwechselbarkeit“(7). Der Wilhelm-Leuschner-Platz vereint beides gleichzeitig in sich, wenn auch derzeit infolge des vagen Planungsstadiums ein Ungleichgewicht zugunsten der Qualität als Ort gegeben ist. Die spatiale Aneignung findet dabei einerseits zum Zeitpunkt des Fotografierens vor Ort statt, wird dann aber nochmals in der Nachbearbeitung der Bilder fortgeführt. Das Arrangieren der Einzelaufnahmen zu Diptychen und Serien, deren Anordnung im Ausstellungsraum selbst – kurz: die ganze Arbeit am Display dient dazu, neue Beziehungen der Teile eines Ganzen sowie eine dialogische Struktur der Bilder herzustellen. Die nächste Ebene der Aneignung in der Arbeit Asphalt, Steine, Scherben entsteht aus dem Wissen, dass Raum nicht nur über seine architektonischen Setzungen, sondern ganz entscheidend auch über menschliche Handlungen definiert wird. Spätestens mit den Studien von Henri Lefebvre und Pierre Bourdieu rückte der soziale Raum in das allgemeine Bewusstsein.(8) Raum ist demnach keine vorgegebene Entität, sondern wird erst durch die Anwesenheit und die Handlungen der darin agierenden Personen produziert. Sophia Kesting und Dana Lorenz wenden parallel zu den dokumentarisch ausgerichteten Architekturaufnahmen ebenso das Mittel der Personeninszenierung an. Das Verfahren der Inszenierung behauptet damit innerhalb der gesamten Serie einen mit der Dokumentation gleichberechtigten Platz. Sie arbeiten mit Akteurinnen und Akteuren, die sie in den Raum nach ihren Vorstellungen hineinstellen oder sie nach kurzen Anweisungen selbstbestimmt eine Position finden lassen. Auf diesem Weg suchen sie nach „Konstellationen“(9), die ein Spannungsfeld zum Ort ergeben. Für diese Anordnungen von meist zwei bis drei Personen sind sowohl die Blickrichtungen ein entscheidendes Kriterium als auch der Leerraum zwischen den Körpern. Es sind statische, stille Inszenierungen, die sichtbar werden. Wie eingefroren und seltsam verloren wirken die Personen auf dem entkontextualisierten Platz, der durch die realen Personen, die nicht interagieren, noch mehr in Schwebe gerät. Eine Steigerung erfährt die Inszenierung dadurch, dass mitunter auch bereits vorhandene Posen nachgestellt werden. Es sind insbesondere Aufnahmen von Demonstrierenden aus der Zeit der Wende, die als Vorlage dienen und dadurch die Inszenierung zu einer Re-Inszenierung erweitern. Die Re-Inszenierung ist dabei eine Strategie der Selbstaneignung von Geschichte durch eine nachgeborene Generation mit dem Ziel einer Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart. Schließlich tritt Aneignung auch in Form der fotografischen Technik auf. Die bewusste Wahl der Schwarz-Weiß-Fotografie stellt eine Referenz auf die fotografische Praxis in der DDR dar Der Rückgriff auf diese mit der Historie in enger Beziehung stehende Darstellungsweise setzt sich in der Wahl der Kamera, einer analogen Mittelformatkamera der Firma Mamiya, fort. Aufgrund der technischen Vorgaben, die dem Projekt eine konzeptuelle Ausrichtung verleihen, tritt die individuelle zeitgenössische Handschrift hinter der historischen Referenz zurück. Auch die Tatsache, dass Kesting und Lorenz das gesamte Projekt als Gemeinschaftsarbeit konzipieren, das sich durch eine kollektive Autorinnenschaft auszeichnet, zeugt davon. Dem eigenen Fotografieren ging dabei eine Auseinandersetzung mit ausgewählten Positionen der DDR-Fotografie voran. Es sind zum einen die in der Nacht mit einer Blitzlichtkamera und später mit einer Infrarot-Kamera gemachten Aufnahmen von Erasmus Schröter, die als Bezugspunkt dienen. Ohne dass es die Passantinnen und Passanten im nächtlichen Leipzig merken, wurden diese im öffentlichen Raum fotografiert und erscheinen auf den Bildern unwirklich aus dem Schwarz der Nacht herausgeschält. Zum anderen orientieren sich die Künstlerinnen an den Aufnahmen von Peter Oehlmann. Auch er bediente sich eines starken Blitzes, der das Augenmerk nur auf bestimmte Details im Bild legt und so die Wirklichkeit fragmentarisch wiedergibt. Zusätzlich übernehmen Kesting und Lorenz das Hilfsmittel eines Reflektors, der das Blitzlicht streut und so eine gleichmäßige Beleuchtung auf größerer Fläche ermöglicht. Das Benutzen von Blitzlicht war, wie Kai Uwe Schierz schreibt, bei vielen künstlerisch arbeitenden Fotografinnen und Fotografen der DDR verpönt. (10) Zu stark war die Lenkung eines bestimmten Blicks und zu rau die Ästhetik mit den ausgeprägten Schlagschatten, als dass dies mit der geforderten neutralen dokumentierenden Haltung konform gegangen wäre. Die Künstlichkeit des Blicks wird in Asphalt, Steine, Scherben noch durch eine nachträgliche Bearbeitung der Abzüge in der Dunkelkammer gesteigert, die sowohl die Grauwerte weiter nuanciert als auch einer Steigerung des Schwarz dient. Die beiden Fotografinnen gehen in ihrer Aneignung von der Ostfotografie über die ursprüngliche Technik und Ästhetik hinaus und haben auch hier das Ziel vor Augen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Alle diese zum Tragen kommenden Strategien der Aneignung greifen in die vorhandene Realität ein und deuten diese künstlerisch um. Ganz allgemein ist es so, dass, wie Rahel Jaeggi schreibt, die „Aneignung das Angeeignete nicht unverändert [lässt]. Deshalb bedeutet z. B. eine ‚Aneignung‘ öffentlicher Räume mehr, als dass man sie bloß benutzt. ‚Zu Eigen‘ macht man sie sich, sofern diese von dem, was man in ihnen und mit ihnen tut, geprägt werden, sich durch die aneignende Benutzung verändern und durch sie erst eine bestimmte Gestalt – wenn auch nicht notwendig im materiellen Sinne – gewinnen.“ (11)
1 Vgl. Horst Riedel, Stadtlexikon Leipzig von A bis Z, hrsg. von Pro Leipzig. Leipzig 2005,
S. 644f.
2 Ich danke Sophia Kesting und Dana Lorenz ganz herzlich für die interessante Zusammenarbeit
und ihre hilfsbereite Unterstützung. Eine Vielzahl an Informationen entnehme
ich einem gemeinsamen Gespräch, das am 11. November 2014 in Leipzig stattfand.
3 Federführend waren die Theorien, die Michel de Certeau in seinem im Original 1980
erschienenen Buch Arts de faire entwickelt hat (auf Deutsch Die Kunst des Handelns,
1988 in Berlin erschienen).
4 Ein Nicht-Ort ist nach Marc Augé ein für die moderne Gesellschaft symptomatischer
Ort ohne Geschichte und Identität, an dem keine menschlichen Interaktionen stattfinden
(vgl. Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit. Frankfurt a. M. 1994).
5 „Es-ist-so-gewesen“ als Wesensmerkmal der Fotografie ist eine der Hauptthesen aus
Roland Barthes’ Die helle Kammer. Frankfurt a. M. 1989, vgl. insbesondere S. 86f.
6 Aleida Assmann, „Geschichte findet Stadt“, in: Moritz Csáky und Christoph Leitgeb
(Hrsg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ‚Spatial
Turn‘. Bielefeld 2009, S. 13 – 27, hier insbesondere S.16.
7 Ebd.
8 Vgl. Henri Lefebvre, The Production of Space. Oxford 1991 und Pierre Bourdieu,
„Physischer,
sozialer und angeeigneter physischer Raum“, in: Martin Wentz (Hrsg.),
Stadt-Räume, Band 2 der Reihe ‚Die Zukunft des Städtischen‘. Frankfurt a. M. et al.
1991, S. 26 – 34.
9 So die eigene Bezeichnung der Künstlerinnen.
10 Vgl. Kai Uwe Schierz, „Höfgen tags – Leipzig nachts. Helfried Strauß und Erasmus
Schröter an der Hochschule für Grafik und Buchkunst“, in: Susanne Knorr et al.
(Hrsg.), Die andere Leipziger Schule. Fotografie in der DDR, Ausst. Kat. Kunsthalle
Erfurt. Bielefeld 2009, S. 40 – 53.
11 Rahel Jaeggi, „Aneignung braucht Fremdheit“, in: Texte zur Kunst, Heft 46, 2002,
S. 60 – 69, hier S. 62.